Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

I Theil. Viertes Capitel.
cletus, geblieben war, und dieses Verdienst um die Kunst wird in der
Bildhauerey sonderlich dem Lysippus 1), welcher die Natur mehr, als des-
sen Vorgänger, nachahmete, zugeeignet: dieser gab also seinen Figuren das
Wellenförmige, wo gewisse Theile noch mit Winkeln angedeutet waren.
Auf besagte Weise ist vermuthlich, wie gesagt ist, dasjenige, was Plinius
viereckigte Statuen nennet, zu verstehen: denn eine viereckigte Art zu
zeichnen heißt man noch itzo Quadratur 2). Aber die Formen der Schön-
heit des vorigen Stils blieben auch in diesem zur Regel: denn die schönste
Natur war der Lehrer gewesen. Daher nahm Lucianus in Beschreibung
seiner Schönheit das Ganze und die Haupt-Theile von den Künstlern des
hohen Stils, und das Zierliche von ihren Nachfolgern. Die Form des
Gesichts sollte wie an der Lemnischen Venus des Phidias seyn; die Haare
aber, die Augenbranen, und die Stirn, wie an der Venus des Praxiteles;
in den Augen wünschte er das Zärtliche und das Reizende, wie an dieser.
Die Hände sollten nach der Venus des Alcamenes, eines Schülers des
Phidias, gemacht werden: und wenn in Beschreibungen von Schönheiten
Hände der Pallas angegeben werden 3), so ist vermuthlich die Pallas des
Phidias, als die berühmteste, zu verstehen; Hände des Polycletus 4) deu-
ten die schönsten Hände an.

Ueberhaupt stelle man sich die Figuren des hohen Stils gegen die
aus dem schönen Stile vor, wie Menschen aus der Helden Zeit, wie des
Homerus Helden und Menschen, gegen gesittete Athenienser in dem Flore
ihres Staats. Oder um einen Vergleich von etwas wirklichem zu machen,
so würde ich die Werke aus jener Zeit neben dem Demosthenes, und die
aus dieser nachfolgenden Zeit neben dem Cicero setzen: der erste reißt uns
gleichsam mit Ungestüm fort; der andere führet uns willig mit sich: jener
läßt uns nicht Zeit, an die Schönheiten der Ausarbeitung zu gedenken; und

in
1) Plin. L. 34. c. 19.
2) Lomaz. Idea della Pitt. p. 15.
3) Anthol. L. 7. fol. 276. b. edit. Ald. 1521.
4) Ibid. fol. 278. a.

I Theil. Viertes Capitel.
cletus, geblieben war, und dieſes Verdienſt um die Kunſt wird in der
Bildhauerey ſonderlich dem Lyſippus 1), welcher die Natur mehr, als deſ-
ſen Vorgaͤnger, nachahmete, zugeeignet: dieſer gab alſo ſeinen Figuren das
Wellenfoͤrmige, wo gewiſſe Theile noch mit Winkeln angedeutet waren.
Auf beſagte Weiſe iſt vermuthlich, wie geſagt iſt, dasjenige, was Plinius
viereckigte Statuen nennet, zu verſtehen: denn eine viereckigte Art zu
zeichnen heißt man noch itzo Quadratur 2). Aber die Formen der Schoͤn-
heit des vorigen Stils blieben auch in dieſem zur Regel: denn die ſchoͤnſte
Natur war der Lehrer geweſen. Daher nahm Lucianus in Beſchreibung
ſeiner Schoͤnheit das Ganze und die Haupt-Theile von den Kuͤnſtlern des
hohen Stils, und das Zierliche von ihren Nachfolgern. Die Form des
Geſichts ſollte wie an der Lemniſchen Venus des Phidias ſeyn; die Haare
aber, die Augenbranen, und die Stirn, wie an der Venus des Praxiteles;
in den Augen wuͤnſchte er das Zaͤrtliche und das Reizende, wie an dieſer.
Die Haͤnde ſollten nach der Venus des Alcamenes, eines Schuͤlers des
Phidias, gemacht werden: und wenn in Beſchreibungen von Schoͤnheiten
Haͤnde der Pallas angegeben werden 3), ſo iſt vermuthlich die Pallas des
Phidias, als die beruͤhmteſte, zu verſtehen; Haͤnde des Polycletus 4) deu-
ten die ſchoͤnſten Haͤnde an.

Ueberhaupt ſtelle man ſich die Figuren des hohen Stils gegen die
aus dem ſchoͤnen Stile vor, wie Menſchen aus der Helden Zeit, wie des
Homerus Helden und Menſchen, gegen geſittete Athenienſer in dem Flore
ihres Staats. Oder um einen Vergleich von etwas wirklichem zu machen,
ſo wuͤrde ich die Werke aus jener Zeit neben dem Demoſthenes, und die
aus dieſer nachfolgenden Zeit neben dem Cicero ſetzen: der erſte reißt uns
gleichſam mit Ungeſtuͤm fort; der andere fuͤhret uns willig mit ſich: jener
laͤßt uns nicht Zeit, an die Schoͤnheiten der Ausarbeitung zu gedenken; und

in
1) Plin. L. 34. c. 19.
2) Lomaz. Idea della Pitt. p. 15.
3) Anthol. L. 7. fol. 276. b. edit. Ald. 1521.
4) Ibid. fol. 278. a.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0278" n="228"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I</hi> Theil. Viertes Capitel.</hi></fw><lb/>
cletus, geblieben war, und die&#x017F;es Verdien&#x017F;t um die Kun&#x017F;t wird in der<lb/>
Bildhauerey &#x017F;onderlich dem Ly&#x017F;ippus <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq">Plin. L. 34. c.</hi> 19.</note>, welcher die Natur mehr, als de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en Vorga&#x0364;nger, nachahmete, zugeeignet: die&#x017F;er gab al&#x017F;o &#x017F;einen Figuren das<lb/>
Wellenfo&#x0364;rmige, wo gewi&#x017F;&#x017F;e Theile noch mit Winkeln angedeutet waren.<lb/>
Auf be&#x017F;agte Wei&#x017F;e i&#x017F;t vermuthlich, wie ge&#x017F;agt i&#x017F;t, dasjenige, was Plinius<lb/><hi rendition="#fr">viereckigte</hi> Statuen nennet, zu ver&#x017F;tehen: denn eine viereckigte Art zu<lb/>
zeichnen heißt man noch itzo <hi rendition="#fr">Quadratur</hi> <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#aq">Lomaz. Idea della Pitt. p.</hi> 15.</note>. Aber die Formen der Scho&#x0364;n-<lb/>
heit des vorigen Stils blieben auch in die&#x017F;em zur Regel: denn die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te<lb/>
Natur war der Lehrer gewe&#x017F;en. Daher nahm <hi rendition="#fr">Lucianus</hi> in Be&#x017F;chreibung<lb/>
&#x017F;einer Scho&#x0364;nheit das Ganze und die Haupt-Theile von den Ku&#x0364;n&#x017F;tlern des<lb/>
hohen Stils, und das Zierliche von ihren Nachfolgern. Die Form des<lb/>
Ge&#x017F;ichts &#x017F;ollte wie an der Lemni&#x017F;chen Venus des Phidias &#x017F;eyn; die Haare<lb/>
aber, die Augenbranen, und die Stirn, wie an der Venus des Praxiteles;<lb/>
in den Augen wu&#x0364;n&#x017F;chte er das Za&#x0364;rtliche und das Reizende, wie an die&#x017F;er.<lb/>
Die Ha&#x0364;nde &#x017F;ollten nach der Venus des Alcamenes, eines Schu&#x0364;lers des<lb/>
Phidias, gemacht werden: und wenn in Be&#x017F;chreibungen von Scho&#x0364;nheiten<lb/>
Ha&#x0364;nde der Pallas angegeben werden <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#aq">Anthol. L. 7. fol. 276. b. edit. Ald.</hi> 1521.</note>, &#x017F;o i&#x017F;t vermuthlich die Pallas des<lb/>
Phidias, als die beru&#x0364;hmte&#x017F;te, zu ver&#x017F;tehen; Ha&#x0364;nde des Polycletus <note place="foot" n="4)"><hi rendition="#aq">Ibid. fol. 278. a.</hi></note> deu-<lb/>
ten die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Ha&#x0364;nde an.</p><lb/>
              <p>Ueberhaupt &#x017F;telle man &#x017F;ich die Figuren des hohen Stils gegen die<lb/>
aus dem &#x017F;cho&#x0364;nen Stile vor, wie Men&#x017F;chen aus der Helden Zeit, wie des<lb/>
Homerus Helden und Men&#x017F;chen, gegen ge&#x017F;ittete Athenien&#x017F;er in dem Flore<lb/>
ihres Staats. Oder um einen Vergleich von etwas wirklichem zu machen,<lb/>
&#x017F;o wu&#x0364;rde ich die Werke aus jener Zeit neben dem Demo&#x017F;thenes, und die<lb/>
aus die&#x017F;er nachfolgenden Zeit neben dem Cicero &#x017F;etzen: der er&#x017F;te reißt uns<lb/>
gleich&#x017F;am mit Unge&#x017F;tu&#x0364;m fort; der andere fu&#x0364;hret uns willig mit &#x017F;ich: jener<lb/>
la&#x0364;ßt uns nicht Zeit, an die Scho&#x0364;nheiten der Ausarbeitung zu gedenken; und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">in</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228/0278] I Theil. Viertes Capitel. cletus, geblieben war, und dieſes Verdienſt um die Kunſt wird in der Bildhauerey ſonderlich dem Lyſippus 1), welcher die Natur mehr, als deſ- ſen Vorgaͤnger, nachahmete, zugeeignet: dieſer gab alſo ſeinen Figuren das Wellenfoͤrmige, wo gewiſſe Theile noch mit Winkeln angedeutet waren. Auf beſagte Weiſe iſt vermuthlich, wie geſagt iſt, dasjenige, was Plinius viereckigte Statuen nennet, zu verſtehen: denn eine viereckigte Art zu zeichnen heißt man noch itzo Quadratur 2). Aber die Formen der Schoͤn- heit des vorigen Stils blieben auch in dieſem zur Regel: denn die ſchoͤnſte Natur war der Lehrer geweſen. Daher nahm Lucianus in Beſchreibung ſeiner Schoͤnheit das Ganze und die Haupt-Theile von den Kuͤnſtlern des hohen Stils, und das Zierliche von ihren Nachfolgern. Die Form des Geſichts ſollte wie an der Lemniſchen Venus des Phidias ſeyn; die Haare aber, die Augenbranen, und die Stirn, wie an der Venus des Praxiteles; in den Augen wuͤnſchte er das Zaͤrtliche und das Reizende, wie an dieſer. Die Haͤnde ſollten nach der Venus des Alcamenes, eines Schuͤlers des Phidias, gemacht werden: und wenn in Beſchreibungen von Schoͤnheiten Haͤnde der Pallas angegeben werden 3), ſo iſt vermuthlich die Pallas des Phidias, als die beruͤhmteſte, zu verſtehen; Haͤnde des Polycletus 4) deu- ten die ſchoͤnſten Haͤnde an. Ueberhaupt ſtelle man ſich die Figuren des hohen Stils gegen die aus dem ſchoͤnen Stile vor, wie Menſchen aus der Helden Zeit, wie des Homerus Helden und Menſchen, gegen geſittete Athenienſer in dem Flore ihres Staats. Oder um einen Vergleich von etwas wirklichem zu machen, ſo wuͤrde ich die Werke aus jener Zeit neben dem Demoſthenes, und die aus dieſer nachfolgenden Zeit neben dem Cicero ſetzen: der erſte reißt uns gleichſam mit Ungeſtuͤm fort; der andere fuͤhret uns willig mit ſich: jener laͤßt uns nicht Zeit, an die Schoͤnheiten der Ausarbeitung zu gedenken; und in 1) Plin. L. 34. c. 19. 2) Lomaz. Idea della Pitt. p. 15. 3) Anthol. L. 7. fol. 276. b. edit. Ald. 1521. 4) Ibid. fol. 278. a.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/278
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/278>, abgerufen am 24.11.2024.