in diesem erscheinen sie ungesucht, und breiten sich mit einem allgemeinen Lichte aus über die Gründe des Redners.
Zum zweyten ist hier von der Gratie, als der Eigenschaft des schönenB. Und sonderlich die Gratie. Stils, insbesondere zu handeln. Es bildet sich dieselbe und wohnet in den Gebehrden, und offenbaret sich in der Handlung, und Bewegung des Kör- pers; ja sie äußert sich in dem Wurfe der Kleidung, und in dem ganzen Anzuge: von den Künstlern nach dem Phidias, Polycletus, und nach ihren Zeitgenossen, wurde sie mehr, als zuvor, gesucht und erreichet. Der Grund davon muß in der Höhe der Ideen, die diese bildeten, und in der Strenge ihrer Zeichnung liegen, und es verdienet dieser Punct unsere besondere Aufmerksamkeit.
Gedachte große Meister des hohen Stils hatten die Schönheit allein in einer vollkommenen Uebereinstimmung der Theile, und in einem erho- benen Ausdrucke, und mehr das wahrhaftig Schöne, als das Liebliche, ge- suchet. Da aber nur ein einziger Begriff der Schönheit, welcher der höch- ste und sich immer gleich ist, und jenen Künstlern beständig gegenwärtig war, kann gedacht werden, so müssen sich diese Schönheiten allezeit diesem Bilde nähern, und sich einander ähnlich und gleichförmig werden: dieses ist die Ursache von der Aehnlichkeit der Köpfe der Niobe und ihrer Töchter, welche unmerklich und nur nach dem Alter und dem Grade der Schönheit in ihnen verschieden ist. Wenn nun der Grundsatz des hohen Stils, wie es scheinet, gewesen ist, das Gesicht und den Stand der Götter und Helden rein von Empfindlichkeit, und entfernt von inneren Empörungen, in einem Gleichgewichte des Gefühls, und mit einer friedlichen immer glei- chen Seele vorzustellen, so war eine gewisse Gratie nicht gesucht, auch nicht anzubringen. Dieser Ausdruck einer bedeutenden und redenden Stille der Seele aber erfordert einen hohen Verstand: "Denn die Nach- "ahmung des Gewaltsamen kann, wie Plato sagt 1), auf verschie
"dene
1)Plato Politico p. 127. l. 43. ed. Bas. 1534.
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Von der Kunſt unter den Griechen.
in dieſem erſcheinen ſie ungeſucht, und breiten ſich mit einem allgemeinen Lichte aus uͤber die Gruͤnde des Redners.
Zum zweyten iſt hier von der Gratie, als der Eigenſchaft des ſchoͤnenB. Und ſonderlich die Gratie. Stils, insbeſondere zu handeln. Es bildet ſich dieſelbe und wohnet in den Gebehrden, und offenbaret ſich in der Handlung, und Bewegung des Koͤr- pers; ja ſie aͤußert ſich in dem Wurfe der Kleidung, und in dem ganzen Anzuge: von den Kuͤnſtlern nach dem Phidias, Polycletus, und nach ihren Zeitgenoſſen, wurde ſie mehr, als zuvor, geſucht und erreichet. Der Grund davon muß in der Hoͤhe der Ideen, die dieſe bildeten, und in der Strenge ihrer Zeichnung liegen, und es verdienet dieſer Punct unſere beſondere Aufmerkſamkeit.
Gedachte große Meiſter des hohen Stils hatten die Schoͤnheit allein in einer vollkommenen Uebereinſtimmung der Theile, und in einem erho- benen Ausdrucke, und mehr das wahrhaftig Schoͤne, als das Liebliche, ge- ſuchet. Da aber nur ein einziger Begriff der Schoͤnheit, welcher der hoͤch- ſte und ſich immer gleich iſt, und jenen Kuͤnſtlern beſtaͤndig gegenwaͤrtig war, kann gedacht werden, ſo muͤſſen ſich dieſe Schoͤnheiten allezeit dieſem Bilde naͤhern, und ſich einander aͤhnlich und gleichfoͤrmig werden: dieſes iſt die Urſache von der Aehnlichkeit der Koͤpfe der Niobe und ihrer Toͤchter, welche unmerklich und nur nach dem Alter und dem Grade der Schoͤnheit in ihnen verſchieden iſt. Wenn nun der Grundſatz des hohen Stils, wie es ſcheinet, geweſen iſt, das Geſicht und den Stand der Goͤtter und Helden rein von Empfindlichkeit, und entfernt von inneren Empoͤrungen, in einem Gleichgewichte des Gefuͤhls, und mit einer friedlichen immer glei- chen Seele vorzuſtellen, ſo war eine gewiſſe Gratie nicht geſucht, auch nicht anzubringen. Dieſer Ausdruck einer bedeutenden und redenden Stille der Seele aber erfordert einen hohen Verſtand: „Denn die Nach- „ahmung des Gewaltſamen kann, wie Plato ſagt 1), auf verſchie
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1)Plato Politico p. 127. l. 43. ed. Baſ. 1534.
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Von der Kunſt unter den Griechen.
in dieſem erſcheinen ſie ungeſucht, und breiten ſich mit einem allgemeinen
Lichte aus uͤber die Gruͤnde des Redners.
Zum zweyten iſt hier von der Gratie, als der Eigenſchaft des ſchoͤnen
Stils, insbeſondere zu handeln. Es bildet ſich dieſelbe und wohnet in den
Gebehrden, und offenbaret ſich in der Handlung, und Bewegung des Koͤr-
pers; ja ſie aͤußert ſich in dem Wurfe der Kleidung, und in dem ganzen
Anzuge: von den Kuͤnſtlern nach dem Phidias, Polycletus, und nach
ihren Zeitgenoſſen, wurde ſie mehr, als zuvor, geſucht und erreichet. Der
Grund davon muß in der Hoͤhe der Ideen, die dieſe bildeten, und in der
Strenge ihrer Zeichnung liegen, und es verdienet dieſer Punct unſere
beſondere Aufmerkſamkeit.
B.
Und ſonderlich
die Gratie.
Gedachte große Meiſter des hohen Stils hatten die Schoͤnheit allein
in einer vollkommenen Uebereinſtimmung der Theile, und in einem erho-
benen Ausdrucke, und mehr das wahrhaftig Schoͤne, als das Liebliche, ge-
ſuchet. Da aber nur ein einziger Begriff der Schoͤnheit, welcher der hoͤch-
ſte und ſich immer gleich iſt, und jenen Kuͤnſtlern beſtaͤndig gegenwaͤrtig
war, kann gedacht werden, ſo muͤſſen ſich dieſe Schoͤnheiten allezeit dieſem
Bilde naͤhern, und ſich einander aͤhnlich und gleichfoͤrmig werden: dieſes
iſt die Urſache von der Aehnlichkeit der Koͤpfe der Niobe und ihrer Toͤchter,
welche unmerklich und nur nach dem Alter und dem Grade der Schoͤnheit
in ihnen verſchieden iſt. Wenn nun der Grundſatz des hohen Stils, wie
es ſcheinet, geweſen iſt, das Geſicht und den Stand der Goͤtter und Helden
rein von Empfindlichkeit, und entfernt von inneren Empoͤrungen, in
einem Gleichgewichte des Gefuͤhls, und mit einer friedlichen immer glei-
chen Seele vorzuſtellen, ſo war eine gewiſſe Gratie nicht geſucht, auch
nicht anzubringen. Dieſer Ausdruck einer bedeutenden und redenden
Stille der Seele aber erfordert einen hohen Verſtand: „Denn die Nach-
„ahmung des Gewaltſamen kann, wie Plato ſagt 1), auf verſchie
„dene
1) Plato Politico p. 127. l. 43. ed. Baſ. 1534.
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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/279>, abgerufen am 16.07.2024.
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