"dene Weise geschehen; aber ein stilles weises Wesen kann we- "der leicht nachgeahmet, noch das nachgeahmte leicht begriffen "werden."
Mit solchen strengen Begriffen der Schönheit fing die Kunst an, wie wohl eingerichtete Staaten mit strengen Gesetzen, groß zu werden. Die nächsten Nachfolger der großen Gesetzgeber in der Kunst, verfuhren nicht, wie Solon mit den Gesetzen des Draco; sie giengen nicht von jenen ab: sondern, wie die richtigsten Gesetze durch eine gemäßigte Erklärung brauch- barer und annehmlicher werden, so suchten diese die hohen Schönheiten, die an Statuen ihrer großen Meister wie von der Natur abstracte Ideen, und nach einem Lehrgebäude gebildete Formen waren, näher zur Natur zu führen, und eben dadurch erhielten sie eine größere Mannigfaltigkeit. In diesem Verstande ist die Gratie zu nehmen, welche die Meister des schönen Stils in ihre Werke geleget haben.
Aber die Gratie, welche, wie die Musen 1), nur in zween Namen 2) bey den ältesten Griechen verehret wurde, scheinet, wie die Venus, deren Ge- spielen jene sind, von verschiedener Natur zu seyn. Die eine ist, wie die himm- lische Venus, von höherer Geburt, und von der Harmonie gebildet, und ist beständig und unveränderlich, wie die ewigen Gesetze von dieser sind. Die zwote Gratie ist, wie die Venus von der Dione geboren, mehr der Ma- terie unterworfen: sie ist eine Tochter der Zeit, und nur eine Gefolginn der ersten, welche sie ankündiget für diejenigen die der himmlischen Gratie nicht geweihet sind. Diese läßt sich herunter von ihrer Hoheit, und macht sich mit Mildigkeit, ohne Erniedrigung, denen, die ein Auge auf dieselbe werfen, theilhaftig: sie ist nicht begierig zu gefallen, sondern nicht uner- kannt zu bleiben. Jene Gratie aber, eine Gesellinn aller Götter 3), scheinet
sich
1)conf. Liceti Resp. de quaesit. per epist. p. 66.
2)Pausan. L. 9. p. 780. l. 13. L. 2. p. 254. l. 28. conf. Eurip. Iphig. Aul. v. 548.
3)Hom. hymn. in Ven. v. 95.
I Theil. Viertes Capitel.
„dene Weiſe geſchehen; aber ein ſtilles weiſes Weſen kann we- „der leicht nachgeahmet, noch das nachgeahmte leicht begriffen „werden.„
Mit ſolchen ſtrengen Begriffen der Schoͤnheit fing die Kunſt an, wie wohl eingerichtete Staaten mit ſtrengen Geſetzen, groß zu werden. Die naͤchſten Nachfolger der großen Geſetzgeber in der Kunſt, verfuhren nicht, wie Solon mit den Geſetzen des Draco; ſie giengen nicht von jenen ab: ſondern, wie die richtigſten Geſetze durch eine gemaͤßigte Erklaͤrung brauch- barer und annehmlicher werden, ſo ſuchten dieſe die hohen Schoͤnheiten, die an Statuen ihrer großen Meiſter wie von der Natur abſtracte Ideen, und nach einem Lehrgebaͤude gebildete Formen waren, naͤher zur Natur zu fuͤhren, und eben dadurch erhielten ſie eine groͤßere Mannigfaltigkeit. In dieſem Verſtande iſt die Gratie zu nehmen, welche die Meiſter des ſchoͤnen Stils in ihre Werke geleget haben.
Aber die Gratie, welche, wie die Muſen 1), nur in zween Namen 2) bey den aͤlteſten Griechen verehret wurde, ſcheinet, wie die Venus, deren Ge- ſpielen jene ſind, von verſchiedener Natur zu ſeyn. Die eine iſt, wie die himm- liſche Venus, von hoͤherer Geburt, und von der Harmonie gebildet, und iſt beſtaͤndig und unveraͤnderlich, wie die ewigen Geſetze von dieſer ſind. Die zwote Gratie iſt, wie die Venus von der Dione geboren, mehr der Ma- terie unterworfen: ſie iſt eine Tochter der Zeit, und nur eine Gefolginn der erſten, welche ſie ankuͤndiget fuͤr diejenigen die der himmliſchen Gratie nicht geweihet ſind. Dieſe laͤßt ſich herunter von ihrer Hoheit, und macht ſich mit Mildigkeit, ohne Erniedrigung, denen, die ein Auge auf dieſelbe werfen, theilhaftig: ſie iſt nicht begierig zu gefallen, ſondern nicht uner- kannt zu bleiben. Jene Gratie aber, eine Geſellinn aller Goͤtter 3), ſcheinet
ſich
1)conf. Liceti Reſp. de quæſit. per epiſt. p. 66.
2)Pauſan. L. 9. p. 780. l. 13. L. 2. p. 254. l. 28. conf. Eurip. Iphig. Aul. v. 548.
3)Hom. hymn. in Ven. v. 95.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0280"n="230"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">I</hi> Theil. Viertes Capitel.</hi></fw><lb/><hirendition="#fr">„dene Weiſe geſchehen; aber ein ſtilles weiſes Weſen kann we-<lb/>„der leicht nachgeahmet, noch das nachgeahmte leicht begriffen<lb/>„werden.„</hi></p><lb/><p>Mit ſolchen ſtrengen Begriffen der Schoͤnheit fing die Kunſt an, wie<lb/>
wohl eingerichtete Staaten mit ſtrengen Geſetzen, groß zu werden. Die<lb/>
naͤchſten Nachfolger der großen Geſetzgeber in der Kunſt, verfuhren nicht,<lb/>
wie Solon mit den Geſetzen des Draco; ſie giengen nicht von jenen ab:<lb/>ſondern, wie die richtigſten Geſetze durch eine gemaͤßigte Erklaͤrung brauch-<lb/>
barer und annehmlicher werden, ſo ſuchten dieſe die hohen Schoͤnheiten,<lb/>
die an Statuen ihrer großen Meiſter wie von der Natur abſtracte Ideen,<lb/>
und nach einem Lehrgebaͤude gebildete Formen waren, naͤher zur Natur zu<lb/>
fuͤhren, und eben dadurch erhielten ſie eine groͤßere Mannigfaltigkeit. In<lb/>
dieſem Verſtande iſt die Gratie zu nehmen, welche die Meiſter des ſchoͤnen<lb/>
Stils in ihre Werke geleget haben.</p><lb/><p>Aber die Gratie, welche, wie die Muſen <noteplace="foot"n="1)"><hirendition="#aq">conf. Liceti Reſp. de quæſit. per epiſt. p.</hi> 66.</note>, nur in zween Namen <noteplace="foot"n="2)"><hirendition="#aq">Pauſan. L. 9. p. 780. l. 13. L. 2. p. 254. l. 28. conf. Eurip. Iphig. Aul. v.</hi> 548.</note><lb/>
bey den aͤlteſten Griechen verehret wurde, ſcheinet, wie die Venus, deren Ge-<lb/>ſpielen jene ſind, von verſchiedener Natur zu ſeyn. Die eine iſt, wie die himm-<lb/>
liſche Venus, von hoͤherer Geburt, und von der Harmonie gebildet, und iſt<lb/>
beſtaͤndig und unveraͤnderlich, wie die ewigen Geſetze von dieſer ſind. Die<lb/>
zwote Gratie iſt, wie die Venus von der Dione geboren, mehr der Ma-<lb/>
terie unterworfen: ſie iſt eine Tochter der Zeit, und nur eine Gefolginn<lb/>
der erſten, welche ſie ankuͤndiget fuͤr diejenigen die der himmliſchen Gratie<lb/>
nicht geweihet ſind. Dieſe laͤßt ſich herunter von ihrer Hoheit, und macht<lb/>ſich mit Mildigkeit, ohne Erniedrigung, denen, die ein Auge auf dieſelbe<lb/>
werfen, theilhaftig: ſie iſt nicht begierig zu gefallen, ſondern nicht uner-<lb/>
kannt zu bleiben. Jene Gratie aber, eine Geſellinn aller Goͤtter <noteplace="foot"n="3)"><hirendition="#aq">Hom. hymn. in Ven. v.</hi> 95.</note>, ſcheinet<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſich</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[230/0280]
I Theil. Viertes Capitel.
„dene Weiſe geſchehen; aber ein ſtilles weiſes Weſen kann we-
„der leicht nachgeahmet, noch das nachgeahmte leicht begriffen
„werden.„
Mit ſolchen ſtrengen Begriffen der Schoͤnheit fing die Kunſt an, wie
wohl eingerichtete Staaten mit ſtrengen Geſetzen, groß zu werden. Die
naͤchſten Nachfolger der großen Geſetzgeber in der Kunſt, verfuhren nicht,
wie Solon mit den Geſetzen des Draco; ſie giengen nicht von jenen ab:
ſondern, wie die richtigſten Geſetze durch eine gemaͤßigte Erklaͤrung brauch-
barer und annehmlicher werden, ſo ſuchten dieſe die hohen Schoͤnheiten,
die an Statuen ihrer großen Meiſter wie von der Natur abſtracte Ideen,
und nach einem Lehrgebaͤude gebildete Formen waren, naͤher zur Natur zu
fuͤhren, und eben dadurch erhielten ſie eine groͤßere Mannigfaltigkeit. In
dieſem Verſtande iſt die Gratie zu nehmen, welche die Meiſter des ſchoͤnen
Stils in ihre Werke geleget haben.
Aber die Gratie, welche, wie die Muſen 1), nur in zween Namen 2)
bey den aͤlteſten Griechen verehret wurde, ſcheinet, wie die Venus, deren Ge-
ſpielen jene ſind, von verſchiedener Natur zu ſeyn. Die eine iſt, wie die himm-
liſche Venus, von hoͤherer Geburt, und von der Harmonie gebildet, und iſt
beſtaͤndig und unveraͤnderlich, wie die ewigen Geſetze von dieſer ſind. Die
zwote Gratie iſt, wie die Venus von der Dione geboren, mehr der Ma-
terie unterworfen: ſie iſt eine Tochter der Zeit, und nur eine Gefolginn
der erſten, welche ſie ankuͤndiget fuͤr diejenigen die der himmliſchen Gratie
nicht geweihet ſind. Dieſe laͤßt ſich herunter von ihrer Hoheit, und macht
ſich mit Mildigkeit, ohne Erniedrigung, denen, die ein Auge auf dieſelbe
werfen, theilhaftig: ſie iſt nicht begierig zu gefallen, ſondern nicht uner-
kannt zu bleiben. Jene Gratie aber, eine Geſellinn aller Goͤtter 3), ſcheinet
ſich
1) conf. Liceti Reſp. de quæſit. per epiſt. p. 66.
2) Pauſan. L. 9. p. 780. l. 13. L. 2. p. 254. l. 28. conf. Eurip. Iphig. Aul. v. 548.
3) Hom. hymn. in Ven. v. 95.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/280>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.