Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.I Theil. Zweytes Capitel. telbar nach dieser Verrichtung plötzlich davon laufen mußte, um sich zu ret-ten vor den Verwandten des Verstorbenen, und vor andern Umstehenden, welche jenen mit Flüchen und mit Steinen verfolgeten. Es zeiget sich auch in der That die wenige Kenntniß der Aegyptischen Bildhauer in der Ana- tomie, nicht allein in einigen unrichtig angegebenen Theilen, sondern man könnte auch aus den wenig angezeigten Muskeln und Knochen, wovon ich unten reden werde, auf den Mangel der Kenntniß derselben schließen. Die Anatomie erstreckete sich in Aegypten nicht weiter, als auf die innern Theile, oder die Eingeweide; und auch diese eingeschränkte Wissenschaft, welche in der Zunft dieser Leute vom Vater auf den Sohn fortgepflanzet wurde, blieb vermuthlich für andere ein Geheimniß: denn bey Zurichtung der todten Körper war niemand außer ihnen zugegen. Man bemerket an Aegyptischen Figuren auch gewisse Abweichungen von den natürlichen Verhältnissen, wie die Ohren an einigen Köpfen sind, welche höher, als die Nase, stehen, wie unter andern an den Sphinxen zu sehen ist: an einem unten angeführten Kopfe in der Villa Altieri mit eingesetzten Augen, ste- hen die Ohren mit den Augen gerade, das ist, das Ohrläppgen stehet fast in gerader Linie mit den Augen. II. Von dem Stil der Kunst der Aegypter. Das zweyte Stück dieses Abschnitts von dem Stil der Kunst unter lich
I Theil. Zweytes Capitel. telbar nach dieſer Verrichtung ploͤtzlich davon laufen mußte, um ſich zu ret-ten vor den Verwandten des Verſtorbenen, und vor andern Umſtehenden, welche jenen mit Fluͤchen und mit Steinen verfolgeten. Es zeiget ſich auch in der That die wenige Kenntniß der Aegyptiſchen Bildhauer in der Ana- tomie, nicht allein in einigen unrichtig angegebenen Theilen, ſondern man koͤnnte auch aus den wenig angezeigten Muskeln und Knochen, wovon ich unten reden werde, auf den Mangel der Kenntniß derſelben ſchließen. Die Anatomie erſtreckete ſich in Aegypten nicht weiter, als auf die innern Theile, oder die Eingeweide; und auch dieſe eingeſchraͤnkte Wiſſenſchaft, welche in der Zunft dieſer Leute vom Vater auf den Sohn fortgepflanzet wurde, blieb vermuthlich fuͤr andere ein Geheimniß: denn bey Zurichtung der todten Koͤrper war niemand außer ihnen zugegen. Man bemerket an Aegyptiſchen Figuren auch gewiſſe Abweichungen von den natuͤrlichen Verhaͤltniſſen, wie die Ohren an einigen Koͤpfen ſind, welche hoͤher, als die Naſe, ſtehen, wie unter andern an den Sphinxen zu ſehen iſt: an einem unten angefuͤhrten Kopfe in der Villa Altieri mit eingeſetzten Augen, ſte- hen die Ohren mit den Augen gerade, das iſt, das Ohrlaͤppgen ſtehet faſt in gerader Linie mit den Augen. II. Von dem Stil der Kunſt der Aegypter. Das zweyte Stuͤck dieſes Abſchnitts von dem Stil der Kunſt unter lich
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I Theil. Zweytes Capitel.
telbar nach dieſer Verrichtung ploͤtzlich davon laufen mußte, um ſich zu ret-
ten vor den Verwandten des Verſtorbenen, und vor andern Umſtehenden,
welche jenen mit Fluͤchen und mit Steinen verfolgeten. Es zeiget ſich auch
in der That die wenige Kenntniß der Aegyptiſchen Bildhauer in der Ana-
tomie, nicht allein in einigen unrichtig angegebenen Theilen, ſondern man
koͤnnte auch aus den wenig angezeigten Muskeln und Knochen, wovon ich
unten reden werde, auf den Mangel der Kenntniß derſelben ſchließen.
Die Anatomie erſtreckete ſich in Aegypten nicht weiter, als auf die innern
Theile, oder die Eingeweide; und auch dieſe eingeſchraͤnkte Wiſſenſchaft,
welche in der Zunft dieſer Leute vom Vater auf den Sohn fortgepflanzet
wurde, blieb vermuthlich fuͤr andere ein Geheimniß: denn bey Zurichtung
der todten Koͤrper war niemand außer ihnen zugegen. Man bemerket
an Aegyptiſchen Figuren auch gewiſſe Abweichungen von den natuͤrlichen
Verhaͤltniſſen, wie die Ohren an einigen Koͤpfen ſind, welche hoͤher, als
die Naſe, ſtehen, wie unter andern an den Sphinxen zu ſehen iſt: an einem
unten angefuͤhrten Kopfe in der Villa Altieri mit eingeſetzten Augen, ſte-
hen die Ohren mit den Augen gerade, das iſt, das Ohrlaͤppgen ſtehet faſt
in gerader Linie mit den Augen.
Das zweyte Stuͤck dieſes Abſchnitts von dem Stil der Kunſt unter
den Aegyptern, welcher die Zeichnung des Nackenden, und die Bekleidung
ihrer Figuren in ſich begreift, iſt in drey Abſaͤtze zu faſſen. In den
zween erſten derſelben wird gehandelt von dem aͤlteren, und nachher von
dem folgenden und ſpaͤtern Stil der Aegyptiſchen Bildhauer, und in dem
dritten Abſatze von den Nachahmungen Aegyptiſcher Werke, durch Griechi-
ſche Kuͤnſtler gemacht. Ich werde unten darzuthun ſuchen, daß die wahren
alten Aegyptiſchen Werke von zweyfacher Art ſind, und daß man in ihrer
eigenen Kunſt zwo verſchiedene Zeiten ſetzen muͤſſe: die erſte hat vermuth-
lich
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