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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764.

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der Zeit unter den Griechen betrachtet.
vermischet, welcher mit einer Regung von Unmuth, wie über ein unver-
dientes unwürdiges Leiden, in die Nase hinauftritt, dieselbe schwülstig
macht, und sich in den erweiterten und aufwerts gezogenen Nüssen offen-
baret. Unter der Stirn ist der Streit zwischen Schmerz und Widerstand,
wie in einem Punkte vereiniget, mit großer Weisheit gebildet: denn in-
dem der Schmerz die Augenbranen in die Höhe treibet, so drücket das
Sträuben wider denselben das obere Augenfleisch niederwerts, und gegen
das obere Augenlied zu, so daß dasselbe durch das übergetretene Fleisch bey-
nahe ganz bedeckt wird. Die Natur, welche der Künstler nicht verschö-
nern konnte, hat er ausgewickelter, angestrengeter und mächtiger zu zeigen
gesuchet: da, wohin der größte Schmerz geleget ist, zeiget sich auch die
größte Schönheit. Die linke Seite, in welche die Schlange mit dem wü-
tenden Bisse ihren Gift ausgießet, ist diejenige, welche durch die nächste
Empfindung zum Herzen am heftigsten zu leiden scheint, und dieser Theil
des Körpers kann ein Wunder der Kunst genennet werden. Seine Bei-
ne wollen sich erheben, um seinem Uebel zu entrinnen; kein Theil ist in
Ruhe: ja die Meißelstreiche selbst helfen zur Bedeutung einer erstarre-
ten Haut 1).

Es haben einige wider dieses Werk Zweifel aufgeworfen, und, weil
es nicht aus einem einzigen Stücke besteht, welches Plinius von dem Lao-
coon in den Bädern des Titus versichert, sondern aus zwey Stücken zu-
sammengesetzet ist, will man behaupten, es sey der gegenwärtige Laocoon
nicht der alte so berühmte. Pirro Ligorio ist einer von denselben, und
er will aus Stücken von Füßen und Schlangen, die größer, als die Na-

tur,
1) Jch habe in einer beglaubten schriftlichen Nachricht gefunden, das Pabst Julius II. dem
Felix von Fredis, welcher den Laocoon in den Bädern des Titus entdeckete, ihm und
seinen Söhnen zur Belohnung introitus et portionem gabellae Portae S. Iohannis
Lateranensis
verliehen habe. Leo X. aber gab diese Einkünfte an die Kirche von St.
Johann Lateran zurück, und jenem an deren Stelle Officium Scriptoriae Apostolicae,
worüber ihm den neunten November 1517. ein Breve ausgefertiget wurde.
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der Zeit unter den Griechen betrachtet.
vermiſchet, welcher mit einer Regung von Unmuth, wie uͤber ein unver-
dientes unwuͤrdiges Leiden, in die Naſe hinauftritt, dieſelbe ſchwuͤlſtig
macht, und ſich in den erweiterten und aufwerts gezogenen Nuͤſſen offen-
baret. Unter der Stirn iſt der Streit zwiſchen Schmerz und Widerſtand,
wie in einem Punkte vereiniget, mit großer Weisheit gebildet: denn in-
dem der Schmerz die Augenbranen in die Hoͤhe treibet, ſo druͤcket das
Straͤuben wider denſelben das obere Augenfleiſch niederwerts, und gegen
das obere Augenlied zu, ſo daß daſſelbe durch das uͤbergetretene Fleiſch bey-
nahe ganz bedeckt wird. Die Natur, welche der Kuͤnſtler nicht verſchoͤ-
nern konnte, hat er ausgewickelter, angeſtrengeter und maͤchtiger zu zeigen
geſuchet: da, wohin der groͤßte Schmerz geleget iſt, zeiget ſich auch die
groͤßte Schoͤnheit. Die linke Seite, in welche die Schlange mit dem wuͤ-
tenden Biſſe ihren Gift ausgießet, iſt diejenige, welche durch die naͤchſte
Empfindung zum Herzen am heftigſten zu leiden ſcheint, und dieſer Theil
des Koͤrpers kann ein Wunder der Kunſt genennet werden. Seine Bei-
ne wollen ſich erheben, um ſeinem Uebel zu entrinnen; kein Theil iſt in
Ruhe: ja die Meißelſtreiche ſelbſt helfen zur Bedeutung einer erſtarre-
ten Haut 1).

Es haben einige wider dieſes Werk Zweifel aufgeworfen, und, weil
es nicht aus einem einzigen Stuͤcke beſteht, welches Plinius von dem Lao-
coon in den Baͤdern des Titus verſichert, ſondern aus zwey Stuͤcken zu-
ſammengeſetzet iſt, will man behaupten, es ſey der gegenwaͤrtige Laocoon
nicht der alte ſo beruͤhmte. Pirro Ligorio iſt einer von denſelben, und
er will aus Stuͤcken von Fuͤßen und Schlangen, die groͤßer, als die Na-

tur,
1) Jch habe in einer beglaubten ſchriftlichen Nachricht gefunden, das Pabſt Julius II. dem
Felix von Fredis, welcher den Laocoon in den Baͤdern des Titus entdeckete, ihm und
ſeinen Soͤhnen zur Belohnung introitus et portionem gabellae Portae S. Iohannis
Lateranenſis
verliehen habe. Leo X. aber gab dieſe Einkuͤnfte an die Kirche von St.
Johann Lateran zuruͤck, und jenem an deren Stelle Officium Scriptoriae Apoſtolicae,
woruͤber ihm den neunten November 1517. ein Breve ausgefertiget wurde.
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[349/0037] der Zeit unter den Griechen betrachtet. vermiſchet, welcher mit einer Regung von Unmuth, wie uͤber ein unver- dientes unwuͤrdiges Leiden, in die Naſe hinauftritt, dieſelbe ſchwuͤlſtig macht, und ſich in den erweiterten und aufwerts gezogenen Nuͤſſen offen- baret. Unter der Stirn iſt der Streit zwiſchen Schmerz und Widerſtand, wie in einem Punkte vereiniget, mit großer Weisheit gebildet: denn in- dem der Schmerz die Augenbranen in die Hoͤhe treibet, ſo druͤcket das Straͤuben wider denſelben das obere Augenfleiſch niederwerts, und gegen das obere Augenlied zu, ſo daß daſſelbe durch das uͤbergetretene Fleiſch bey- nahe ganz bedeckt wird. Die Natur, welche der Kuͤnſtler nicht verſchoͤ- nern konnte, hat er ausgewickelter, angeſtrengeter und maͤchtiger zu zeigen geſuchet: da, wohin der groͤßte Schmerz geleget iſt, zeiget ſich auch die groͤßte Schoͤnheit. Die linke Seite, in welche die Schlange mit dem wuͤ- tenden Biſſe ihren Gift ausgießet, iſt diejenige, welche durch die naͤchſte Empfindung zum Herzen am heftigſten zu leiden ſcheint, und dieſer Theil des Koͤrpers kann ein Wunder der Kunſt genennet werden. Seine Bei- ne wollen ſich erheben, um ſeinem Uebel zu entrinnen; kein Theil iſt in Ruhe: ja die Meißelſtreiche ſelbſt helfen zur Bedeutung einer erſtarre- ten Haut 1). Es haben einige wider dieſes Werk Zweifel aufgeworfen, und, weil es nicht aus einem einzigen Stuͤcke beſteht, welches Plinius von dem Lao- coon in den Baͤdern des Titus verſichert, ſondern aus zwey Stuͤcken zu- ſammengeſetzet iſt, will man behaupten, es ſey der gegenwaͤrtige Laocoon nicht der alte ſo beruͤhmte. Pirro Ligorio iſt einer von denſelben, und er will aus Stuͤcken von Fuͤßen und Schlangen, die groͤßer, als die Na- tur, 1) Jch habe in einer beglaubten ſchriftlichen Nachricht gefunden, das Pabſt Julius II. dem Felix von Fredis, welcher den Laocoon in den Baͤdern des Titus entdeckete, ihm und ſeinen Soͤhnen zur Belohnung introitus et portionem gabellae Portae S. Iohannis Lateranenſis verliehen habe. Leo X. aber gab dieſe Einkuͤnfte an die Kirche von St. Johann Lateran zuruͤck, und jenem an deren Stelle Officium Scriptoriae Apoſtolicae, woruͤber ihm den neunten November 1517. ein Breve ausgefertiget wurde. X x 3

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764/37>, abgerufen am 21.11.2024.