Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

I Theil. Von der Kunst, nach den äußern Umständen
Gemälden und Statuen vorziehen wollte, und also verdienet es bey der
niedrigern Nachwelt, die nichts in der Kunst demselben zu vergleichen her-
vorgebracht hat, um desto größere Aufmerksamkeit und Bewunderung.
Der Weise findet darinnen zu forschen, und der Künstler unaufhörlich zu
lernen, und beyde können überzeuget werden, daß mehr in demselben ver-
borgen liegt, als was das Auge entdecket, und daß der Verstand des Mei-
sters viel höher noch, als sein Werk, gewesen.

Laocoon ist eine Natur im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines
Mannes gemacht, der die bewußte Stärke des Geistes gegen denselben zu
sammeln suchet; und indem sein Leiden die Muskeln aufschwellet, und die
Nerven anziehet, tritt der mit Stärke bewaffnete Geist in der aufgetriebe-
benen Stirne hervor, und die Brust erhebet sich durch den beklemmten
Othem, und durch Zurückhaltung des Ausbruchs der Empfindung, um
den Schmerz in sich zu fassen und zu verschließen. Das bange Seufzen,
welches er in sich, und den Othem an sich zieht, erschöpfet den Unterleib,
und machet die Seiten hohl, welches uns gleichsam von der Bewegung sei-
ner Eingeweide urtheilen läßt. Sein eigenes Leiden aber scheint ihn weni-
ger zu beängstigen, als die Pein seiner Kinder, die ihr Angesicht zu ihrem
Vater wenden, und um Hülfe schreyen: denn das väterliche Herz offen-
baret sich in den wehmüthigen Augen, und das Mitleiden scheint in einem
trüben Dufte auf denselben zu schwimmen. Sein Gesicht ist klagend, aber
nicht schreyend, seine Augen sind nach der höhern Hülfe gewandt. Der
Mund ist voll von Wehmuth, und die gesenkte Unterlippe schwer von der-
selben; in der überwerts gezogenen Oberlippe aber ist dieselbe mit Schmerz

vermi-
Künstlern genommen, und da Polycletus in der sieben und achtzigsten Olympias geblü-
het, so hat man seinen vermeynten Schüler eine Olympias später gesetzet: andere
Gründe kann Maffei nicht haben. Rollin redet vom Laocoon, als wenn er nicht in
der Welt wäre b).
b) Hist. anc. T. XI. p. 87.

I Theil. Von der Kunſt, nach den aͤußern Umſtaͤnden
Gemaͤlden und Statuen vorziehen wollte, und alſo verdienet es bey der
niedrigern Nachwelt, die nichts in der Kunſt demſelben zu vergleichen her-
vorgebracht hat, um deſto groͤßere Aufmerkſamkeit und Bewunderung.
Der Weiſe findet darinnen zu forſchen, und der Kuͤnſtler unaufhoͤrlich zu
lernen, und beyde koͤnnen uͤberzeuget werden, daß mehr in demſelben ver-
borgen liegt, als was das Auge entdecket, und daß der Verſtand des Mei-
ſters viel hoͤher noch, als ſein Werk, geweſen.

Laocoon iſt eine Natur im hoͤchſten Schmerze, nach dem Bilde eines
Mannes gemacht, der die bewußte Staͤrke des Geiſtes gegen denſelben zu
ſammeln ſuchet; und indem ſein Leiden die Muskeln aufſchwellet, und die
Nerven anziehet, tritt der mit Staͤrke bewaffnete Geiſt in der aufgetriebe-
benen Stirne hervor, und die Bruſt erhebet ſich durch den beklemmten
Othem, und durch Zuruͤckhaltung des Ausbruchs der Empfindung, um
den Schmerz in ſich zu faſſen und zu verſchließen. Das bange Seufzen,
welches er in ſich, und den Othem an ſich zieht, erſchoͤpfet den Unterleib,
und machet die Seiten hohl, welches uns gleichſam von der Bewegung ſei-
ner Eingeweide urtheilen laͤßt. Sein eigenes Leiden aber ſcheint ihn weni-
ger zu beaͤngſtigen, als die Pein ſeiner Kinder, die ihr Angeſicht zu ihrem
Vater wenden, und um Huͤlfe ſchreyen: denn das vaͤterliche Herz offen-
baret ſich in den wehmuͤthigen Augen, und das Mitleiden ſcheint in einem
truͤben Dufte auf denſelben zu ſchwimmen. Sein Geſicht iſt klagend, aber
nicht ſchreyend, ſeine Augen ſind nach der hoͤhern Huͤlfe gewandt. Der
Mund iſt voll von Wehmuth, und die geſenkte Unterlippe ſchwer von der-
ſelben; in der uͤberwerts gezogenen Oberlippe aber iſt dieſelbe mit Schmerz

vermi-
Kuͤnſtlern genommen, und da Polycletus in der ſieben und achtzigſten Olympias gebluͤ-
het, ſo hat man ſeinen vermeynten Schuͤler eine Olympias ſpaͤter geſetzet: andere
Gruͤnde kann Maffei nicht haben. Rollin redet vom Laocoon, als wenn er nicht in
der Welt waͤre b).
b) Hiſt. anc. T. XI. p. 87.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0036" n="348"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I</hi> Theil. Von der Kun&#x017F;t, nach den a&#x0364;ußern Um&#x017F;ta&#x0364;nden</hi></fw><lb/>
Gema&#x0364;lden und Statuen vorziehen wollte, und al&#x017F;o verdienet es bey der<lb/>
niedrigern Nachwelt, die nichts in der Kun&#x017F;t dem&#x017F;elben zu vergleichen her-<lb/>
vorgebracht hat, um de&#x017F;to gro&#x0364;ßere Aufmerk&#x017F;amkeit und Bewunderung.<lb/>
Der Wei&#x017F;e findet darinnen zu for&#x017F;chen, und der Ku&#x0364;n&#x017F;tler unaufho&#x0364;rlich zu<lb/>
lernen, und beyde ko&#x0364;nnen u&#x0364;berzeuget werden, daß mehr in dem&#x017F;elben ver-<lb/>
borgen liegt, als was das Auge entdecket, und daß der Ver&#x017F;tand des Mei-<lb/>
&#x017F;ters viel ho&#x0364;her noch, als &#x017F;ein Werk, gewe&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Laocoon i&#x017F;t eine Natur im ho&#x0364;ch&#x017F;ten Schmerze, nach dem Bilde eines<lb/>
Mannes gemacht, der die bewußte Sta&#x0364;rke des Gei&#x017F;tes gegen den&#x017F;elben zu<lb/>
&#x017F;ammeln &#x017F;uchet; und indem &#x017F;ein Leiden die Muskeln auf&#x017F;chwellet, und die<lb/>
Nerven anziehet, tritt der mit Sta&#x0364;rke bewaffnete Gei&#x017F;t in der aufgetriebe-<lb/>
benen Stirne hervor, und die Bru&#x017F;t erhebet &#x017F;ich durch den beklemmten<lb/>
Othem, und durch Zuru&#x0364;ckhaltung des Ausbruchs der Empfindung, um<lb/>
den Schmerz in &#x017F;ich zu fa&#x017F;&#x017F;en und zu ver&#x017F;chließen. Das bange Seufzen,<lb/>
welches er in &#x017F;ich, und den Othem an &#x017F;ich zieht, er&#x017F;cho&#x0364;pfet den Unterleib,<lb/>
und machet die Seiten hohl, welches uns gleich&#x017F;am von der Bewegung &#x017F;ei-<lb/>
ner Eingeweide urtheilen la&#x0364;ßt. Sein eigenes Leiden aber &#x017F;cheint ihn weni-<lb/>
ger zu bea&#x0364;ng&#x017F;tigen, als die Pein &#x017F;einer Kinder, die ihr Ange&#x017F;icht zu ihrem<lb/>
Vater wenden, und um Hu&#x0364;lfe &#x017F;chreyen: denn das va&#x0364;terliche Herz offen-<lb/>
baret &#x017F;ich in den wehmu&#x0364;thigen Augen, und das Mitleiden &#x017F;cheint in einem<lb/>
tru&#x0364;ben Dufte auf den&#x017F;elben zu &#x017F;chwimmen. Sein Ge&#x017F;icht i&#x017F;t klagend, aber<lb/>
nicht &#x017F;chreyend, &#x017F;eine Augen &#x017F;ind nach der ho&#x0364;hern Hu&#x0364;lfe gewandt. Der<lb/>
Mund i&#x017F;t voll von Wehmuth, und die ge&#x017F;enkte Unterlippe &#x017F;chwer von der-<lb/>
&#x017F;elben; in der u&#x0364;berwerts gezogenen Oberlippe aber i&#x017F;t die&#x017F;elbe mit Schmerz<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">vermi-</fw><lb/><note xml:id="seg2pn_3_2" prev="#seg2pn_3_1" place="foot" n="2)">Ku&#x0364;n&#x017F;tlern genommen, und da Polycletus in der &#x017F;ieben und achtzig&#x017F;ten Olympias geblu&#x0364;-<lb/>
het, &#x017F;o hat man &#x017F;einen vermeynten Schu&#x0364;ler eine Olympias &#x017F;pa&#x0364;ter ge&#x017F;etzet: andere<lb/>
Gru&#x0364;nde kann Maffei nicht haben. Rollin redet vom Laocoon, als wenn er nicht in<lb/>
der Welt wa&#x0364;re <note place="foot" n="b)"><hi rendition="#aq">Hi&#x017F;t. anc. T. XI. p.</hi> 87.</note>.</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[348/0036] I Theil. Von der Kunſt, nach den aͤußern Umſtaͤnden Gemaͤlden und Statuen vorziehen wollte, und alſo verdienet es bey der niedrigern Nachwelt, die nichts in der Kunſt demſelben zu vergleichen her- vorgebracht hat, um deſto groͤßere Aufmerkſamkeit und Bewunderung. Der Weiſe findet darinnen zu forſchen, und der Kuͤnſtler unaufhoͤrlich zu lernen, und beyde koͤnnen uͤberzeuget werden, daß mehr in demſelben ver- borgen liegt, als was das Auge entdecket, und daß der Verſtand des Mei- ſters viel hoͤher noch, als ſein Werk, geweſen. Laocoon iſt eine Natur im hoͤchſten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes gemacht, der die bewußte Staͤrke des Geiſtes gegen denſelben zu ſammeln ſuchet; und indem ſein Leiden die Muskeln aufſchwellet, und die Nerven anziehet, tritt der mit Staͤrke bewaffnete Geiſt in der aufgetriebe- benen Stirne hervor, und die Bruſt erhebet ſich durch den beklemmten Othem, und durch Zuruͤckhaltung des Ausbruchs der Empfindung, um den Schmerz in ſich zu faſſen und zu verſchließen. Das bange Seufzen, welches er in ſich, und den Othem an ſich zieht, erſchoͤpfet den Unterleib, und machet die Seiten hohl, welches uns gleichſam von der Bewegung ſei- ner Eingeweide urtheilen laͤßt. Sein eigenes Leiden aber ſcheint ihn weni- ger zu beaͤngſtigen, als die Pein ſeiner Kinder, die ihr Angeſicht zu ihrem Vater wenden, und um Huͤlfe ſchreyen: denn das vaͤterliche Herz offen- baret ſich in den wehmuͤthigen Augen, und das Mitleiden ſcheint in einem truͤben Dufte auf denſelben zu ſchwimmen. Sein Geſicht iſt klagend, aber nicht ſchreyend, ſeine Augen ſind nach der hoͤhern Huͤlfe gewandt. Der Mund iſt voll von Wehmuth, und die geſenkte Unterlippe ſchwer von der- ſelben; in der uͤberwerts gezogenen Oberlippe aber iſt dieſelbe mit Schmerz vermi- 2) 2) Kuͤnſtlern genommen, und da Polycletus in der ſieben und achtzigſten Olympias gebluͤ- het, ſo hat man ſeinen vermeynten Schuͤler eine Olympias ſpaͤter geſetzet: andere Gruͤnde kann Maffei nicht haben. Rollin redet vom Laocoon, als wenn er nicht in der Welt waͤre b). b) Hiſt. anc. T. XI. p. 87.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764/36
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764/36>, abgerufen am 21.11.2024.