Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

der Zeit unter den Griechen betrachtet.
terie heißt. Callimachus und Nicander aus der sogenannten Plejas,
oder dem Siebengestirn der Dichter, an dem Hofe des Ptolemäus Phila-
delphus, suchten mehr Gelehrte, als Dichter, zu erscheinen, und sich mit
alten und fremden Worten und Redensarten zu zeigen, und sonderlich Ly-
cophron,
einer unter diesen sieben, wollte lieber besessen, als begeistert,
scheinen, und mit Schweiß und Pein verstanden werden, als gefallen; er
scheint der erste unter den Griechen zu seyn, welcher anfieng, mit Ana-
grammen zu spielen 1). Die Dichter machten Altäre, Flöten, Beile und
Eyer aus Versen; selbst Theocritus hat ein Wortspiel gemachet 2). Zu
verwundern aber ist, daß Apollonius Rhodius, ebenfalls unter den sie-
ben Dichtern, sehr oft wider die bekanntesten Regeln der Sprache ver-
stossen hat 3). Dergleichen von meinem Vorhaben entfernt scheinende An-
merkung, kann allezeit zu gewissen allgemeinen Muthmaßungen dienen:
denn ein Dichter, wie Lycophron, welcher den Beyfall des Hofes und sei-
ner Zeit erhält, giebt nicht den besten Begriff von dem herrschenden Ge-
schmacke, und die Schicksale der Kunst und der Gelehrsamkeit sind sich
mehrentheils sehr ähnlich gewesen, und haben sich begleitet. Da im vori-
gen Jahrhunderte eine schädliche Seuche in Jtalien, so wie in allen Län-
dern, wo Wissenschaften geübet werden, überhand nahm, welche das Ge-
hirn der Gelehrten mit üblen Dünsten anfüllete, und ihr Geblüt in eine
fiebermäßige Wallung brachte, woraus der Schwulst und ein mit Mühe
gesuchter Witz in der Schreibart entstand, zu eben der Zeit kam eben die
Seuche auch unter die Künstler. Giuseppe Arpino, Bernini und
Borromini verließen in der Malerey, Bildhauerey und Baukunst die

Natur
1) Dickins. Delph. phoenis. c. 1.
2) Idyl. 27. v. 26.
3) v. Argonaut. L. 3. v. 99. 167. 335. 395. 600. etc, Canterus Novar. Lect. L. 5. c. 13
p.
627. merket diese Vergehungen als einen besondern Gebrauch in Verwechselung der
Pronominum possessivorum an.

der Zeit unter den Griechen betrachtet.
terie heißt. Callimachus und Nicander aus der ſogenannten Plejas,
oder dem Siebengeſtirn der Dichter, an dem Hofe des Ptolemaͤus Phila-
delphus, ſuchten mehr Gelehrte, als Dichter, zu erſcheinen, und ſich mit
alten und fremden Worten und Redensarten zu zeigen, und ſonderlich Ly-
cophron,
einer unter dieſen ſieben, wollte lieber beſeſſen, als begeiſtert,
ſcheinen, und mit Schweiß und Pein verſtanden werden, als gefallen; er
ſcheint der erſte unter den Griechen zu ſeyn, welcher anfieng, mit Ana-
grammen zu ſpielen 1). Die Dichter machten Altaͤre, Floͤten, Beile und
Eyer aus Verſen; ſelbſt Theocritus hat ein Wortſpiel gemachet 2). Zu
verwundern aber iſt, daß Apollonius Rhodius, ebenfalls unter den ſie-
ben Dichtern, ſehr oft wider die bekannteſten Regeln der Sprache ver-
ſtoſſen hat 3). Dergleichen von meinem Vorhaben entfernt ſcheinende An-
merkung, kann allezeit zu gewiſſen allgemeinen Muthmaßungen dienen:
denn ein Dichter, wie Lycophron, welcher den Beyfall des Hofes und ſei-
ner Zeit erhaͤlt, giebt nicht den beſten Begriff von dem herrſchenden Ge-
ſchmacke, und die Schickſale der Kunſt und der Gelehrſamkeit ſind ſich
mehrentheils ſehr aͤhnlich geweſen, und haben ſich begleitet. Da im vori-
gen Jahrhunderte eine ſchaͤdliche Seuche in Jtalien, ſo wie in allen Laͤn-
dern, wo Wiſſenſchaften geuͤbet werden, uͤberhand nahm, welche das Ge-
hirn der Gelehrten mit uͤblen Duͤnſten anfuͤllete, und ihr Gebluͤt in eine
fiebermaͤßige Wallung brachte, woraus der Schwulſt und ein mit Muͤhe
geſuchter Witz in der Schreibart entſtand, zu eben der Zeit kam eben die
Seuche auch unter die Kuͤnſtler. Giuſeppe Arpino, Bernini und
Borromini verließen in der Malerey, Bildhauerey und Baukunſt die

Natur
1) Dickinſ. Delph. phoeniſ. c. 1.
2) Idyl. 27. v. 26.
3) v. Argonaut. L. 3. v. 99. 167. 335. 395. 600. etc, Canterus Novar. Lect. L. 5. c. 13
p.
627. merket dieſe Vergehungen als einen beſondern Gebrauch in Verwechſelung der
Pronominum poſſeſſivorum an.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0047" n="359"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Zeit unter den Griechen betrachtet.</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">terie</hi> heißt. <hi rendition="#fr">Callimachus</hi> und <hi rendition="#fr">Nicander</hi> aus der &#x017F;ogenannten <hi rendition="#fr">Plejas,</hi><lb/>
oder dem Siebenge&#x017F;tirn der Dichter, an dem Hofe des Ptolema&#x0364;us Phila-<lb/>
delphus, &#x017F;uchten mehr Gelehrte, als Dichter, zu er&#x017F;cheinen, und &#x017F;ich mit<lb/>
alten und fremden Worten und Redensarten zu zeigen, und &#x017F;onderlich <hi rendition="#fr">Ly-<lb/>
cophron,</hi> einer unter die&#x017F;en &#x017F;ieben, wollte lieber be&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en, als begei&#x017F;tert,<lb/>
&#x017F;cheinen, und mit Schweiß und Pein ver&#x017F;tanden werden, als gefallen; er<lb/>
&#x017F;cheint der er&#x017F;te unter den Griechen zu &#x017F;eyn, welcher anfieng, mit Ana-<lb/>
grammen zu &#x017F;pielen <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq">Dickin&#x017F;. Delph. phoeni&#x017F;. c.</hi> 1.</note>. Die Dichter machten Alta&#x0364;re, Flo&#x0364;ten, Beile und<lb/>
Eyer aus Ver&#x017F;en; &#x017F;elb&#x017F;t Theocritus hat ein Wort&#x017F;piel gemachet <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#aq">Idyl. 27. v.</hi> 26.</note>. Zu<lb/>
verwundern aber i&#x017F;t, daß <hi rendition="#fr">Apollonius Rhodius,</hi> ebenfalls unter den &#x017F;ie-<lb/>
ben Dichtern, &#x017F;ehr oft wider die bekannte&#x017F;ten Regeln der Sprache ver-<lb/>
&#x017F;to&#x017F;&#x017F;en hat <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#aq">v. Argonaut. L. 3. v. 99. 167. 335. 395. 600. etc,</hi><hi rendition="#fr">Canterus</hi><hi rendition="#aq">Novar. Lect. L. 5. c. 13<lb/>
p.</hi> 627. merket die&#x017F;e Vergehungen als einen be&#x017F;ondern Gebrauch in Verwech&#x017F;elung der<lb/><hi rendition="#aq">Pronominum po&#x017F;&#x017F;e&#x017F;&#x017F;ivorum</hi> an.</note>. Dergleichen von meinem Vorhaben entfernt &#x017F;cheinende An-<lb/>
merkung, kann allezeit zu gewi&#x017F;&#x017F;en allgemeinen Muthmaßungen dienen:<lb/>
denn ein Dichter, wie Lycophron, welcher den Beyfall des Hofes und &#x017F;ei-<lb/>
ner Zeit erha&#x0364;lt, giebt nicht den be&#x017F;ten Begriff von dem herr&#x017F;chenden Ge-<lb/>
&#x017F;chmacke, und die Schick&#x017F;ale der Kun&#x017F;t und der Gelehr&#x017F;amkeit &#x017F;ind &#x017F;ich<lb/>
mehrentheils &#x017F;ehr a&#x0364;hnlich gewe&#x017F;en, und haben &#x017F;ich begleitet. Da im vori-<lb/>
gen Jahrhunderte eine &#x017F;cha&#x0364;dliche Seuche in Jtalien, &#x017F;o wie in allen La&#x0364;n-<lb/>
dern, wo Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften geu&#x0364;bet werden, u&#x0364;berhand nahm, welche das Ge-<lb/>
hirn der Gelehrten mit u&#x0364;blen Du&#x0364;n&#x017F;ten anfu&#x0364;llete, und ihr Geblu&#x0364;t in eine<lb/>
fieberma&#x0364;ßige Wallung brachte, woraus der Schwul&#x017F;t und ein mit Mu&#x0364;he<lb/>
ge&#x017F;uchter Witz in der Schreibart ent&#x017F;tand, zu eben der Zeit kam eben die<lb/>
Seuche auch unter die Ku&#x0364;n&#x017F;tler. <hi rendition="#fr">Giu&#x017F;eppe Arpino, Bernini</hi> und<lb/><hi rendition="#fr">Borromini</hi> verließen in der Malerey, Bildhauerey und Baukun&#x017F;t die<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Natur</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[359/0047] der Zeit unter den Griechen betrachtet. terie heißt. Callimachus und Nicander aus der ſogenannten Plejas, oder dem Siebengeſtirn der Dichter, an dem Hofe des Ptolemaͤus Phila- delphus, ſuchten mehr Gelehrte, als Dichter, zu erſcheinen, und ſich mit alten und fremden Worten und Redensarten zu zeigen, und ſonderlich Ly- cophron, einer unter dieſen ſieben, wollte lieber beſeſſen, als begeiſtert, ſcheinen, und mit Schweiß und Pein verſtanden werden, als gefallen; er ſcheint der erſte unter den Griechen zu ſeyn, welcher anfieng, mit Ana- grammen zu ſpielen 1). Die Dichter machten Altaͤre, Floͤten, Beile und Eyer aus Verſen; ſelbſt Theocritus hat ein Wortſpiel gemachet 2). Zu verwundern aber iſt, daß Apollonius Rhodius, ebenfalls unter den ſie- ben Dichtern, ſehr oft wider die bekannteſten Regeln der Sprache ver- ſtoſſen hat 3). Dergleichen von meinem Vorhaben entfernt ſcheinende An- merkung, kann allezeit zu gewiſſen allgemeinen Muthmaßungen dienen: denn ein Dichter, wie Lycophron, welcher den Beyfall des Hofes und ſei- ner Zeit erhaͤlt, giebt nicht den beſten Begriff von dem herrſchenden Ge- ſchmacke, und die Schickſale der Kunſt und der Gelehrſamkeit ſind ſich mehrentheils ſehr aͤhnlich geweſen, und haben ſich begleitet. Da im vori- gen Jahrhunderte eine ſchaͤdliche Seuche in Jtalien, ſo wie in allen Laͤn- dern, wo Wiſſenſchaften geuͤbet werden, uͤberhand nahm, welche das Ge- hirn der Gelehrten mit uͤblen Duͤnſten anfuͤllete, und ihr Gebluͤt in eine fiebermaͤßige Wallung brachte, woraus der Schwulſt und ein mit Muͤhe geſuchter Witz in der Schreibart entſtand, zu eben der Zeit kam eben die Seuche auch unter die Kuͤnſtler. Giuſeppe Arpino, Bernini und Borromini verließen in der Malerey, Bildhauerey und Baukunſt die Natur 1) Dickinſ. Delph. phoeniſ. c. 1. 2) Idyl. 27. v. 26. 3) v. Argonaut. L. 3. v. 99. 167. 335. 395. 600. etc, Canterus Novar. Lect. L. 5. c. 13 p. 627. merket dieſe Vergehungen als einen beſondern Gebrauch in Verwechſelung der Pronominum poſſeſſivorum an.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764/47
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764/47>, abgerufen am 21.11.2024.