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Wolf, August: Der Stern der Schönheit. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 303–322. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Der Fremde unterhielt sich etwa eine halbe Stunde mit dem Oheim, dann nahm der Letztere Hut und Mantel und ging mit ihm aus. Ich mußte wieder zu Tante und Mutter, aber ich ging gerüstet mit der Hoffnung auf das Buch. Eine halbe Stunde hielt diese Rüstung auch ziemlich aus, dann aber überwand die Ungeduld und quälte mich entsetzlich. Ich stellte mich an das Fenster, um nur gleich zu wissen, wenn der Oheim wiederkäme. Aber er wollte nicht kommen. Und wie Kinder sind: was sie heute nicht haben, haben sie gar nicht; ich war in Verzweiflung, und mir kamen mehrmals die Thränen in die Augen. Ich kann dir nicht sagen, welchen Schimmer der Stern der Schönheit in meiner Phantasie verbreitet hatte und was ich mir Alles dabei dachte. Absolut das Schönste und Entzückendste, was es nur gäbe, gleichsam ein Gedicht, das alle übrigen Stücke und Gedichte gleichgültig und übrig machte, das die Möglichkeit aller Poesie in sich verwirklichte und umschloß, die ächte und eigentliche Wunderblüthe der himmlischen Pflanze, zu der alle übrigen Erzeugnisse nur die Blätter waren.

Das würde ich natürlich damals nicht in dieser Weise klar und bestimmt haben aussprechen können, aber das Gefühl davon hatte ich voll und ganz und so stark, daß es mir heute noch ganz gegenwärtig und deutlich ist. Der Stern der Schönheit, das war die einzige Vorstellung, die mein Gehirn erfüllte, und unbestimmt zogen wunderschöne Frauen, prächtige Paläste, Ritter,

Der Fremde unterhielt sich etwa eine halbe Stunde mit dem Oheim, dann nahm der Letztere Hut und Mantel und ging mit ihm aus. Ich mußte wieder zu Tante und Mutter, aber ich ging gerüstet mit der Hoffnung auf das Buch. Eine halbe Stunde hielt diese Rüstung auch ziemlich aus, dann aber überwand die Ungeduld und quälte mich entsetzlich. Ich stellte mich an das Fenster, um nur gleich zu wissen, wenn der Oheim wiederkäme. Aber er wollte nicht kommen. Und wie Kinder sind: was sie heute nicht haben, haben sie gar nicht; ich war in Verzweiflung, und mir kamen mehrmals die Thränen in die Augen. Ich kann dir nicht sagen, welchen Schimmer der Stern der Schönheit in meiner Phantasie verbreitet hatte und was ich mir Alles dabei dachte. Absolut das Schönste und Entzückendste, was es nur gäbe, gleichsam ein Gedicht, das alle übrigen Stücke und Gedichte gleichgültig und übrig machte, das die Möglichkeit aller Poesie in sich verwirklichte und umschloß, die ächte und eigentliche Wunderblüthe der himmlischen Pflanze, zu der alle übrigen Erzeugnisse nur die Blätter waren.

Das würde ich natürlich damals nicht in dieser Weise klar und bestimmt haben aussprechen können, aber das Gefühl davon hatte ich voll und ganz und so stark, daß es mir heute noch ganz gegenwärtig und deutlich ist. Der Stern der Schönheit, das war die einzige Vorstellung, die mein Gehirn erfüllte, und unbestimmt zogen wunderschöne Frauen, prächtige Paläste, Ritter,

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[0017] Der Fremde unterhielt sich etwa eine halbe Stunde mit dem Oheim, dann nahm der Letztere Hut und Mantel und ging mit ihm aus. Ich mußte wieder zu Tante und Mutter, aber ich ging gerüstet mit der Hoffnung auf das Buch. Eine halbe Stunde hielt diese Rüstung auch ziemlich aus, dann aber überwand die Ungeduld und quälte mich entsetzlich. Ich stellte mich an das Fenster, um nur gleich zu wissen, wenn der Oheim wiederkäme. Aber er wollte nicht kommen. Und wie Kinder sind: was sie heute nicht haben, haben sie gar nicht; ich war in Verzweiflung, und mir kamen mehrmals die Thränen in die Augen. Ich kann dir nicht sagen, welchen Schimmer der Stern der Schönheit in meiner Phantasie verbreitet hatte und was ich mir Alles dabei dachte. Absolut das Schönste und Entzückendste, was es nur gäbe, gleichsam ein Gedicht, das alle übrigen Stücke und Gedichte gleichgültig und übrig machte, das die Möglichkeit aller Poesie in sich verwirklichte und umschloß, die ächte und eigentliche Wunderblüthe der himmlischen Pflanze, zu der alle übrigen Erzeugnisse nur die Blätter waren. Das würde ich natürlich damals nicht in dieser Weise klar und bestimmt haben aussprechen können, aber das Gefühl davon hatte ich voll und ganz und so stark, daß es mir heute noch ganz gegenwärtig und deutlich ist. Der Stern der Schönheit, das war die einzige Vorstellung, die mein Gehirn erfüllte, und unbestimmt zogen wunderschöne Frauen, prächtige Paläste, Ritter,

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:44:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:44:15Z)

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Zitationshilfe: Wolf, August: Der Stern der Schönheit. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 303–322. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolf_schoenheit_1910/17>, abgerufen am 03.12.2024.