Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
pwo_090.001

Schon in dem lateinisch aufgezeichneten Waltharilied des 10. Jahrhunderts pwo_090.002
begegnet uns ein Repräsentant der allem Anschein nach zahlreichen pwo_090.003
Niederschriften alter heimischer Sagen in der Lateinsprache der pwo_090.004
Mönche, als der vorläufig noch alleinigen Träger der Schriftkunde pwo_090.005
und Bildung. Eine Verblassung und konventionell modernere Umbiegung pwo_090.006
mancher alten Urwüchsigkeit läßt sich für jene Zeit bereits pwo_090.007
feststellen.

pwo_090.008

Am tiefsten einschneidend gestaltet sich der Gegensatz der Stilarten pwo_090.009
durch die verschiedene Vortragsweise. Lernten wir auch pwo_090.010
die Fortdauer mancher Elemente des alten Liederstils kennen, so bedingt pwo_090.011
die ganze Anlage eines Schriftwerkes doch das Eindringen neuer pwo_090.012
Gesetze. Während das mündlich vorgetragene Einzellied nach Kürze pwo_090.013
und Gedrungenheit streben muß, kann die schriftliche Zusammenfassung pwo_090.014
eines Sagenkreises sich behaglich verbreiten. Daher nun die Fülle pwo_090.015
von Episoden, daher die Kleinmalerei, der Reichtum an Einzelheiten pwo_090.016
überhaupt, die volle, bunte Ausmalung statt der früheren pwo_090.017
kräftigen Skizzierung. Schon äußerlich werden Parenthesen beliebt.

pwo_090.018

Tiefer greift die allmählich erwachende Neigung zur kunstvollen pwo_090.019
Motivierung des Dargestellten statt der rein gegenständlichen Darstellung. pwo_090.020
Nicht nur die Handlungen, auch die Seelenkämpfe der pwo_090.021
Personen gelangen zur Ausführung. Ja, immer zahlreicher dringen pwo_090.022
Urteile des Dichters selbst über das Erzählte in die Erzählung pwo_090.023
ein, wie:

pwo_090.024

"daz hete ouch wol verdienet umbe alle liute der helt gemeit"

pwo_090.025

oder:

pwo_090.026

"von schulden si do klageten: des gie in waerleichen not."

pwo_090.027

Nach alledem kann auf das deutsche Nibelungenlied so wenig wie pwo_090.028
auf die Dichtungen Homers und die größeren, zusammenfassenden pwo_090.029
Schriftwerke verwandten Stiles noch der Begriff einer Volksdichtung pwo_090.030
Anwendung finden, am wenigsten wenn man davon andere erzählende pwo_090.031
Gedichte als Kunstepen scheiden will. Wohl beruhen jene im Stoff pwo_090.032
auf der Volkssage: aber sie haben dieselbe schon mit Bewußtsein pwo_090.033
bearbeitet. Wohl haben sie aus den früheren liedartigen Behandlungen pwo_090.034
einen Teil der einfachen und anschaulichen Stilelemente noch pwo_090.035
übernommen: aber neues, eigenartiges Gepräge haben diesen Werken

pwo_090.001

  Schon in dem lateinisch aufgezeichneten Waltharilied des 10. Jahrhunderts pwo_090.002
begegnet uns ein Repräsentant der allem Anschein nach zahlreichen pwo_090.003
Niederschriften alter heimischer Sagen in der Lateinsprache der pwo_090.004
Mönche, als der vorläufig noch alleinigen Träger der Schriftkunde pwo_090.005
und Bildung. Eine Verblassung und konventionell modernere Umbiegung pwo_090.006
mancher alten Urwüchsigkeit läßt sich für jene Zeit bereits pwo_090.007
feststellen.

pwo_090.008

  Am tiefsten einschneidend gestaltet sich der Gegensatz der Stilarten pwo_090.009
durch die verschiedene Vortragsweise. Lernten wir auch pwo_090.010
die Fortdauer mancher Elemente des alten Liederstils kennen, so bedingt pwo_090.011
die ganze Anlage eines Schriftwerkes doch das Eindringen neuer pwo_090.012
Gesetze. Während das mündlich vorgetragene Einzellied nach Kürze pwo_090.013
und Gedrungenheit streben muß, kann die schriftliche Zusammenfassung pwo_090.014
eines Sagenkreises sich behaglich verbreiten. Daher nun die Fülle pwo_090.015
von Episoden, daher die Kleinmalerei, der Reichtum an Einzelheiten pwo_090.016
überhaupt, die volle, bunte Ausmalung statt der früheren pwo_090.017
kräftigen Skizzierung. Schon äußerlich werden Parenthesen beliebt.

pwo_090.018

  Tiefer greift die allmählich erwachende Neigung zur kunstvollen pwo_090.019
Motivierung des Dargestellten statt der rein gegenständlichen Darstellung. pwo_090.020
Nicht nur die Handlungen, auch die Seelenkämpfe der pwo_090.021
Personen gelangen zur Ausführung. Ja, immer zahlreicher dringen pwo_090.022
Urteile des Dichters selbst über das Erzählte in die Erzählung pwo_090.023
ein, wie:

pwo_090.024

„daz hete ouch wol verdienet umbe alle liute der helt gemeit

pwo_090.025

oder:

pwo_090.026

„von schulden si dô klageten: des gie in wærlîchen nôt.“

pwo_090.027

  Nach alledem kann auf das deutsche Nibelungenlied so wenig wie pwo_090.028
auf die Dichtungen Homers und die größeren, zusammenfassenden pwo_090.029
Schriftwerke verwandten Stiles noch der Begriff einer Volksdichtung pwo_090.030
Anwendung finden, am wenigsten wenn man davon andere erzählende pwo_090.031
Gedichte als Kunstepen scheiden will. Wohl beruhen jene im Stoff pwo_090.032
auf der Volkssage: aber sie haben dieselbe schon mit Bewußtsein pwo_090.033
bearbeitet. Wohl haben sie aus den früheren liedartigen Behandlungen pwo_090.034
einen Teil der einfachen und anschaulichen Stilelemente noch pwo_090.035
übernommen: aber neues, eigenartiges Gepräge haben diesen Werken

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0104" n="90"/>
            <lb n="pwo_090.001"/>
            <p>  Schon in dem lateinisch aufgezeichneten Waltharilied des 10. Jahrhunderts <lb n="pwo_090.002"/>
begegnet uns ein Repräsentant der allem Anschein nach zahlreichen <lb n="pwo_090.003"/>
Niederschriften alter heimischer Sagen in der Lateinsprache der <lb n="pwo_090.004"/>
Mönche, als der vorläufig noch alleinigen Träger der Schriftkunde <lb n="pwo_090.005"/>
und Bildung. Eine Verblassung und konventionell modernere Umbiegung <lb n="pwo_090.006"/>
mancher alten Urwüchsigkeit läßt sich für jene Zeit bereits <lb n="pwo_090.007"/>
feststellen.</p>
            <lb n="pwo_090.008"/>
            <p>  Am tiefsten einschneidend gestaltet sich der Gegensatz der Stilarten <lb n="pwo_090.009"/>
durch die verschiedene <hi rendition="#g">Vortragsweise.</hi> Lernten wir auch <lb n="pwo_090.010"/>
die Fortdauer mancher Elemente des alten Liederstils kennen, so bedingt <lb n="pwo_090.011"/>
die ganze Anlage eines Schriftwerkes doch das Eindringen neuer <lb n="pwo_090.012"/>
Gesetze. Während das mündlich vorgetragene Einzellied nach Kürze <lb n="pwo_090.013"/>
und Gedrungenheit streben muß, kann die schriftliche Zusammenfassung <lb n="pwo_090.014"/>
eines Sagenkreises sich behaglich verbreiten. Daher nun die Fülle <lb n="pwo_090.015"/>
von <hi rendition="#g">Episoden,</hi> daher die <hi rendition="#g">Kleinmalerei,</hi> der Reichtum an Einzelheiten <lb n="pwo_090.016"/>
überhaupt, die volle, bunte Ausmalung statt der früheren <lb n="pwo_090.017"/>
kräftigen Skizzierung. Schon äußerlich werden <hi rendition="#g">Parenthesen</hi> beliebt.</p>
            <lb n="pwo_090.018"/>
            <p>  Tiefer greift die allmählich erwachende Neigung zur kunstvollen <lb n="pwo_090.019"/> <hi rendition="#g">Motivierung</hi> des Dargestellten statt der rein gegenständlichen Darstellung. <lb n="pwo_090.020"/>
Nicht nur die Handlungen, auch die <hi rendition="#g">Seelenkämpfe</hi> der <lb n="pwo_090.021"/>
Personen gelangen zur Ausführung. Ja, immer zahlreicher dringen <lb n="pwo_090.022"/> <hi rendition="#g">Urteile</hi> des Dichters selbst über das Erzählte in die Erzählung <lb n="pwo_090.023"/>
ein, wie:</p>
            <lb n="pwo_090.024"/>
            <p>
              <lg>
                <l><hi rendition="#aq">&#x201E;daz hete ouch wol verdienet umbe alle liute der helt gemeit</hi>&#x201C;</l>
              </lg>
            </p>
            <lb n="pwo_090.025"/>
            <p>oder:</p>
            <lb n="pwo_090.026"/>
            <p> <hi rendition="#aq">
                <lg>
                  <l>&#x201E;von schulden si dô klageten: des gie in wærlîchen nôt.&#x201C;</l>
                </lg>
              </hi> </p>
            <lb n="pwo_090.027"/>
            <p>  Nach alledem kann auf das deutsche Nibelungenlied so wenig wie <lb n="pwo_090.028"/>
auf die Dichtungen Homers und die größeren, zusammenfassenden <lb n="pwo_090.029"/>
Schriftwerke verwandten Stiles noch der Begriff einer Volksdichtung <lb n="pwo_090.030"/>
Anwendung finden, am wenigsten wenn man davon andere erzählende <lb n="pwo_090.031"/>
Gedichte als Kunstepen scheiden will. Wohl beruhen jene im Stoff <lb n="pwo_090.032"/>
auf der Volkssage: aber sie haben dieselbe schon <hi rendition="#g">mit Bewußtsein</hi> <lb n="pwo_090.033"/>
bearbeitet. Wohl haben sie aus den früheren liedartigen Behandlungen <lb n="pwo_090.034"/>
einen Teil der einfachen und anschaulichen Stilelemente noch <lb n="pwo_090.035"/>
übernommen: aber neues, eigenartiges Gepräge haben diesen Werken
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[90/0104] pwo_090.001   Schon in dem lateinisch aufgezeichneten Waltharilied des 10. Jahrhunderts pwo_090.002 begegnet uns ein Repräsentant der allem Anschein nach zahlreichen pwo_090.003 Niederschriften alter heimischer Sagen in der Lateinsprache der pwo_090.004 Mönche, als der vorläufig noch alleinigen Träger der Schriftkunde pwo_090.005 und Bildung. Eine Verblassung und konventionell modernere Umbiegung pwo_090.006 mancher alten Urwüchsigkeit läßt sich für jene Zeit bereits pwo_090.007 feststellen. pwo_090.008   Am tiefsten einschneidend gestaltet sich der Gegensatz der Stilarten pwo_090.009 durch die verschiedene Vortragsweise. Lernten wir auch pwo_090.010 die Fortdauer mancher Elemente des alten Liederstils kennen, so bedingt pwo_090.011 die ganze Anlage eines Schriftwerkes doch das Eindringen neuer pwo_090.012 Gesetze. Während das mündlich vorgetragene Einzellied nach Kürze pwo_090.013 und Gedrungenheit streben muß, kann die schriftliche Zusammenfassung pwo_090.014 eines Sagenkreises sich behaglich verbreiten. Daher nun die Fülle pwo_090.015 von Episoden, daher die Kleinmalerei, der Reichtum an Einzelheiten pwo_090.016 überhaupt, die volle, bunte Ausmalung statt der früheren pwo_090.017 kräftigen Skizzierung. Schon äußerlich werden Parenthesen beliebt. pwo_090.018   Tiefer greift die allmählich erwachende Neigung zur kunstvollen pwo_090.019 Motivierung des Dargestellten statt der rein gegenständlichen Darstellung. pwo_090.020 Nicht nur die Handlungen, auch die Seelenkämpfe der pwo_090.021 Personen gelangen zur Ausführung. Ja, immer zahlreicher dringen pwo_090.022 Urteile des Dichters selbst über das Erzählte in die Erzählung pwo_090.023 ein, wie: pwo_090.024 „daz hete ouch wol verdienet umbe alle liute der helt gemeit“ pwo_090.025 oder: pwo_090.026 „von schulden si dô klageten: des gie in wærlîchen nôt.“ pwo_090.027   Nach alledem kann auf das deutsche Nibelungenlied so wenig wie pwo_090.028 auf die Dichtungen Homers und die größeren, zusammenfassenden pwo_090.029 Schriftwerke verwandten Stiles noch der Begriff einer Volksdichtung pwo_090.030 Anwendung finden, am wenigsten wenn man davon andere erzählende pwo_090.031 Gedichte als Kunstepen scheiden will. Wohl beruhen jene im Stoff pwo_090.032 auf der Volkssage: aber sie haben dieselbe schon mit Bewußtsein pwo_090.033 bearbeitet. Wohl haben sie aus den früheren liedartigen Behandlungen pwo_090.034 einen Teil der einfachen und anschaulichen Stilelemente noch pwo_090.035 übernommen: aber neues, eigenartiges Gepräge haben diesen Werken

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/104
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/104>, abgerufen am 23.11.2024.