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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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plastischen Gestalten entbehrt und in das Reich der Allegorie hinüberleitet.

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Sowohl rein allegorische Stücke wie Tiererzählungen zur Spiegelung pwo_093.004
menschlicher Verhältnisse kommen auf epischem Gebiet seit Beginn pwo_093.005
der lyrischen Blüte zur Verwendung. Die Batrachomyomachie pwo_093.006
bietet ein besonders augenfälliges Zeugnis von der Parodie des pwo_093.007
heroischen Stils. -

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Jn ähnlichen Grundzügen bewegt sich die Entwicklung des persischen pwo_093.009
Epos. Nach Firdusis Zeiten treten die verschiedensten Anzeichen pwo_093.010
einer beginnenden Entartung des epischen Stils hervor. Virtuoses pwo_093.011
Spiel mit Worten und Bildern, formale Effekthascherei pwo_093.012
läßt schon äußerlich die Verflüchtigung des ernsten Heroengeistes erkennen. pwo_093.013
Unentrinnbar dringen didaktische Neigungen vor. Eine pwo_093.014
glänzende Erscheinung wie Nizami repräsentiert den phantastischen pwo_093.015
Geist, der zweihundert Jahre nach Firdusi zu voller Herrschaft gelangt pwo_093.016
ist: wieder mehr Abenteuer als nationale Heldenthaten, die Liebe pwo_093.017
als ein ausschlaggebender Faktor im Ritterleben, mehr ein Zug zum pwo_093.018
Jdyllischen als zum Erhabenen, Großen.

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Die Vergeistigung des Lebens, ein so bedeutsamer und erhebender pwo_093.020
Prozeß in jedem Völkerleben, wirkt doch auf die echte epische pwo_093.021
Form auflösend. Mit Saadi ist die persische Litteratur voll und bewußt pwo_093.022
in das Zeichen des Geistes getreten: die Erzählung ist zur pwo_093.023
bloßen Jllustration einer sittlichen Wahrheit herabgedrückt. Mit ihr pwo_093.024
hebt er an:

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"Kannst du's, laß nie vom Mitleid ab dich lenken, pwo_093.026
Wer Mitleid schenkt, dem wird man Mitleid schenken. pwo_093.027
Sei stolz nicht darauf, daß du gütig bist; pwo_093.028
Weil du so hoch, wie andere, niedrig bist; pwo_093.029
Getroffen ward er von des Schicksals Streichen, pwo_093.030
Kann dich des Schicksals Schwert nicht auch erreichen? pwo_093.031
Siehst Tausende du fleh'n nach deiner Huld, pwo_093.032
Dem Herrn bezahle du des Dankes Schuld, pwo_093.033
Daß sich nach dir die Augen vieler wenden pwo_093.034
Und nicht dein Auge blickt nach andrer Händen. pwo_093.035
Die Großmut, sagt' ich, sei der Großen Ruhm: pwo_093.036
Nein, sie ist der Propheten Eigentum."
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Die Großmut, sagt' ich, sei der Großen Ruhm: pwo_093.036
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/107>, abgerufen am 23.11.2024.