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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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"Jn einer Woche war, wie ich vernommen, pwo_094.002
Kein Wandrer einst zu Abraham gekommen. pwo_094.003
Jn edlem Sinn aß früh er nichts allein, pwo_094.004
Es kehrte denn ein Armer bei ihm ein" etc.
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Stil schließlich in Symbolistik und Allegorie. -

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Von den romanischen Völkern erregen zunächst die Franzosen pwo_094.008
durch die bedeutsame Wendung in der Geschichte ihres Epos Aufmerksamkeit. pwo_094.009
Das Rolandslied und die übrigen Behandlungen des kärlingischen pwo_094.010
Sagenkreises geben vorerst in schmuckloser Thatsächlichkeit schlicht pwo_094.011
objektive, von nationalem Geist, Vaterlandsliebe und Vasallentreue wie pwo_094.012
von frommer Gesinnung erfüllte Bilder heldenhafter Kämpfe. Welche pwo_094.013
Umbiegung auch der romanische Geist erfährt, läßt sich an den Geschicken pwo_094.014
der Rolandsdichtung vornehmlich auf italienischen Boden erkennen. pwo_094.015
Aus dem kraftvollen Recken, der für Karl den Großen einen pwo_094.016
Heldentod stirbt, macht bereits Bojardo einen abenteuernden Liebeshelden, pwo_094.017
eben den "Verliebten Roland", den schon der Titel seines pwo_094.018
Epos ankündigt. An dieses schließt sich als Fortsetzung "Der rasende pwo_094.019
Roland" des Ariost, eine in ihrer Art glänzende Bekundung romanischer pwo_094.020
Weltlust und Genußfreude. Jn farbenreicher Pracht entfaltet pwo_094.021
die Phantasie ihre ganze Fülle und Weichheit. Hier ist pwo_094.022
sogar keine Frage, wen wir als den größeren Künstler anerkennen pwo_094.023
werden: den Dichter des alten Rolandliedes oder Ariost. Fragen wir pwo_094.024
jedoch, wo dies glänzende Werk in der Geschichte des epischen Stils pwo_094.025
steht, so erkennen wir ihm gewiß einen Gipfel zu, aber die schönste pwo_094.026
Vollendung derjenigen Darstellungsform, die mit dem objektiv erzählenden pwo_094.027
Stil entschlossen gebrochen hat, um in üppigster Behaglichkeit pwo_094.028
das Subjekt auszuleben, die Erscheinungen der Außenwelt mit pwo_094.029
souveräner Phantasie zu überfliegen.

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Gerade Frankreich selbst sollte den Geist zur Blüte heranreifen pwo_094.031
lassen, der als Ferment an der Zersetzung des epischen Stils pwo_094.032
bei den modernen Völkern überhaupt thätig war. Jm Zeitalter der pwo_094.033
Kreuzzüge geschieht die Berührung mit dem Orient, von dessen Wundergeschichten pwo_094.034
sich die leicht erregliche Phantasie der Romanen lebhaft pwo_094.035
angezogen fühlte. Auch begünstigte der abenteuerliche Geist der Kreuzzüge pwo_094.036
die Sucht ins Ferne, Phantastische; handelte es sich doch

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/108>, abgerufen am 23.11.2024.