Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
pwo_101.001

so muote in aber diu minne me. pwo_101.002
diu tet im wirs danne we; pwo_101.003
sei tet im me ze leide pwo_101.004
dan triuwe und ere beide."

pwo_101.005

Mit ähnlicher Gewandtheit ist jeder Zug in Beschreibung der Minnegrotte pwo_101.006
symbolisch auf Eigenschaften der Liebe umgedeutet. Es pwo_101.007
leuchtet ein, daß wir damit vor dem vollen Gegensatz zum pwo_101.008
ursprünglich epischen Stil
stehen. So finden wir bei Gottfried pwo_101.009
denn auch bereits ein bewußtes Streben nach Originalität, das sich pwo_101.010
direkt ausspricht und zugleich in kunstvollster Stilistik bethätigt. pwo_101.011
Jn den spielend leichten Fluß seiner weichen und glänzenden Sprache pwo_101.012
bringen Antithesen, Wortspiele, Jronie eine plätschernde Bewegung. pwo_101.013
Wie weit die Entfernung von der rein erzählenden Darstellungsweise pwo_101.014
reicht, bekundet am verblüffendsten die ausgedehnte Polemik des Dichters pwo_101.015
über seine Kunstgenossen inmitten seines Werkes.

pwo_101.016
§ 55. pwo_101.017
Das allegorische Epos.
pwo_101.018

Während die Erzählung immer mehr in breiter Beschreibung pwo_101.019
verschwimmt und die Thatsachen immer weiterer Auflösung in Gefühlsanalyse pwo_101.020
erliegen, läßt sich in Deutschland besonders augenfällig pwo_101.021
beobachten, wie didaktische Neigungen erwachen und anschwellen. pwo_101.022
Schon die kurzen ethischen Urteile des Dichters, denen wir bereits pwo_101.023
in unserer Epopöe begegnen, geben im Grunde moralische Direktiven. pwo_101.024
Jn dem Maße, wie anstelle reflexionsloser, rein gegenständlicher pwo_101.025
Wiedergabe der Thatsachen das Urteil oder doch die Empfindung des pwo_101.026
Dichters über die Thatsachen tritt, gewinnt denn auch das Epos pwo_101.027
didaktische und moralisierende Elemente. Die Personifikation der Gefühle pwo_101.028
macht es schließlich möglich, Jdeen ohne Rücksicht auf individuelle pwo_101.029
Gestalten, rein herausgestellt, auf und gegen einander wirken zu lassen. pwo_101.030
So ist der Schritt zum rein allegorischen Epos nicht mehr weit.

pwo_101.031

Durchgeführte Allegorien tauchen bei uns bereits in der zweiten pwo_101.032
Hälfte des 13. Jahrhunderts auf. Konrad von Würzburg läßt pwo_101.033
in seiner "Klage der Kunst" die personifizierte Kunst von der Phantasie pwo_101.034
in den Wald geleiten, wo Frau Kunst in zerrissenem Gewande

pwo_101.001

so muote in aber diu minne mê. pwo_101.002
diu tet im wirs danne wê; pwo_101.003
sî tet im mê ze leide pwo_101.004
dan triuwe und êre beide.“

pwo_101.005

Mit ähnlicher Gewandtheit ist jeder Zug in Beschreibung der Minnegrotte pwo_101.006
symbolisch auf Eigenschaften der Liebe umgedeutet. Es pwo_101.007
leuchtet ein, daß wir damit vor dem vollen Gegensatz zum pwo_101.008
ursprünglich epischen Stil
stehen. So finden wir bei Gottfried pwo_101.009
denn auch bereits ein bewußtes Streben nach Originalität, das sich pwo_101.010
direkt ausspricht und zugleich in kunstvollster Stilistik bethätigt. pwo_101.011
Jn den spielend leichten Fluß seiner weichen und glänzenden Sprache pwo_101.012
bringen Antithesen, Wortspiele, Jronie eine plätschernde Bewegung. pwo_101.013
Wie weit die Entfernung von der rein erzählenden Darstellungsweise pwo_101.014
reicht, bekundet am verblüffendsten die ausgedehnte Polemik des Dichters pwo_101.015
über seine Kunstgenossen inmitten seines Werkes.

pwo_101.016
§ 55. pwo_101.017
Das allegorische Epos.
pwo_101.018

  Während die Erzählung immer mehr in breiter Beschreibung pwo_101.019
verschwimmt und die Thatsachen immer weiterer Auflösung in Gefühlsanalyse pwo_101.020
erliegen, läßt sich in Deutschland besonders augenfällig pwo_101.021
beobachten, wie didaktische Neigungen erwachen und anschwellen. pwo_101.022
Schon die kurzen ethischen Urteile des Dichters, denen wir bereits pwo_101.023
in unserer Epopöe begegnen, geben im Grunde moralische Direktiven. pwo_101.024
Jn dem Maße, wie anstelle reflexionsloser, rein gegenständlicher pwo_101.025
Wiedergabe der Thatsachen das Urteil oder doch die Empfindung des pwo_101.026
Dichters über die Thatsachen tritt, gewinnt denn auch das Epos pwo_101.027
didaktische und moralisierende Elemente. Die Personifikation der Gefühle pwo_101.028
macht es schließlich möglich, Jdeen ohne Rücksicht auf individuelle pwo_101.029
Gestalten, rein herausgestellt, auf und gegen einander wirken zu lassen. pwo_101.030
So ist der Schritt zum rein allegorischen Epos nicht mehr weit.

pwo_101.031

  Durchgeführte Allegorien tauchen bei uns bereits in der zweiten pwo_101.032
Hälfte des 13. Jahrhunderts auf. Konrad von Würzburg läßt pwo_101.033
in seiner „Klage der Kunst“ die personifizierte Kunst von der Phantasie pwo_101.034
in den Wald geleiten, wo Frau Kunst in zerrissenem Gewande

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0115" n="101"/>
            <lb n="pwo_101.001"/>
            <p> <hi rendition="#aq">
                <lg>
                  <l>so muote in aber diu minne mê.</l>
                  <lb n="pwo_101.002"/>
                  <l>diu tet im wirs danne wê;</l>
                  <lb n="pwo_101.003"/>
                  <l>sî tet im mê ze leide</l>
                  <lb n="pwo_101.004"/>
                  <l>dan triuwe und êre beide.&#x201C;</l>
                </lg>
              </hi> </p>
            <lb n="pwo_101.005"/>
            <p>Mit ähnlicher Gewandtheit ist jeder Zug in Beschreibung der Minnegrotte <lb n="pwo_101.006"/> <hi rendition="#g">symbolisch</hi> auf Eigenschaften der Liebe umgedeutet. Es <lb n="pwo_101.007"/>
leuchtet ein, daß wir damit vor dem <hi rendition="#g">vollen Gegensatz zum <lb n="pwo_101.008"/>
ursprünglich epischen Stil</hi> stehen. So finden wir bei Gottfried <lb n="pwo_101.009"/>
denn auch bereits ein bewußtes Streben nach Originalität, das sich <lb n="pwo_101.010"/>
direkt ausspricht und zugleich in <hi rendition="#g">kunstvollster Stilistik</hi> bethätigt. <lb n="pwo_101.011"/>
Jn den spielend leichten Fluß seiner weichen und glänzenden Sprache <lb n="pwo_101.012"/>
bringen Antithesen, Wortspiele, Jronie eine plätschernde Bewegung. <lb n="pwo_101.013"/>
Wie weit die Entfernung von der rein erzählenden Darstellungsweise <lb n="pwo_101.014"/>
reicht, bekundet am verblüffendsten die ausgedehnte Polemik des Dichters <lb n="pwo_101.015"/>
über seine Kunstgenossen inmitten seines Werkes.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pwo_101.016"/>
            <head> <hi rendition="#c">§ 55. <lb n="pwo_101.017"/>
Das allegorische Epos.</hi> </head>
            <lb n="pwo_101.018"/>
            <p>  Während die Erzählung immer mehr in breiter Beschreibung <lb n="pwo_101.019"/>
verschwimmt und die Thatsachen immer weiterer Auflösung in Gefühlsanalyse <lb n="pwo_101.020"/>
erliegen, läßt sich in Deutschland besonders augenfällig <lb n="pwo_101.021"/>
beobachten, wie didaktische Neigungen erwachen und anschwellen. <lb n="pwo_101.022"/>
Schon die kurzen ethischen Urteile des Dichters, denen wir bereits <lb n="pwo_101.023"/>
in unserer Epopöe begegnen, geben im Grunde moralische Direktiven. <lb n="pwo_101.024"/>
Jn dem Maße, wie anstelle reflexionsloser, rein gegenständlicher <lb n="pwo_101.025"/>
Wiedergabe der Thatsachen das Urteil oder doch die Empfindung des <lb n="pwo_101.026"/>
Dichters <hi rendition="#g">über</hi> die Thatsachen tritt, gewinnt denn auch das Epos <lb n="pwo_101.027"/>
didaktische und moralisierende Elemente. Die Personifikation der Gefühle <lb n="pwo_101.028"/>
macht es schließlich möglich, Jdeen ohne Rücksicht auf individuelle <lb n="pwo_101.029"/>
Gestalten, rein herausgestellt, auf und gegen einander wirken zu lassen. <lb n="pwo_101.030"/>
So ist der Schritt zum rein allegorischen Epos nicht mehr weit.</p>
            <lb n="pwo_101.031"/>
            <p>  Durchgeführte Allegorien tauchen bei uns bereits in der zweiten <lb n="pwo_101.032"/>
Hälfte des 13. Jahrhunderts auf. <hi rendition="#g">Konrad von Würzburg</hi> läßt <lb n="pwo_101.033"/>
in seiner &#x201E;Klage der Kunst&#x201C; die personifizierte Kunst von der Phantasie <lb n="pwo_101.034"/>
in den Wald geleiten, wo Frau Kunst in zerrissenem Gewande
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0115] pwo_101.001 so muote in aber diu minne mê. pwo_101.002 diu tet im wirs danne wê; pwo_101.003 sî tet im mê ze leide pwo_101.004 dan triuwe und êre beide.“ pwo_101.005 Mit ähnlicher Gewandtheit ist jeder Zug in Beschreibung der Minnegrotte pwo_101.006 symbolisch auf Eigenschaften der Liebe umgedeutet. Es pwo_101.007 leuchtet ein, daß wir damit vor dem vollen Gegensatz zum pwo_101.008 ursprünglich epischen Stil stehen. So finden wir bei Gottfried pwo_101.009 denn auch bereits ein bewußtes Streben nach Originalität, das sich pwo_101.010 direkt ausspricht und zugleich in kunstvollster Stilistik bethätigt. pwo_101.011 Jn den spielend leichten Fluß seiner weichen und glänzenden Sprache pwo_101.012 bringen Antithesen, Wortspiele, Jronie eine plätschernde Bewegung. pwo_101.013 Wie weit die Entfernung von der rein erzählenden Darstellungsweise pwo_101.014 reicht, bekundet am verblüffendsten die ausgedehnte Polemik des Dichters pwo_101.015 über seine Kunstgenossen inmitten seines Werkes. pwo_101.016 § 55. pwo_101.017 Das allegorische Epos. pwo_101.018   Während die Erzählung immer mehr in breiter Beschreibung pwo_101.019 verschwimmt und die Thatsachen immer weiterer Auflösung in Gefühlsanalyse pwo_101.020 erliegen, läßt sich in Deutschland besonders augenfällig pwo_101.021 beobachten, wie didaktische Neigungen erwachen und anschwellen. pwo_101.022 Schon die kurzen ethischen Urteile des Dichters, denen wir bereits pwo_101.023 in unserer Epopöe begegnen, geben im Grunde moralische Direktiven. pwo_101.024 Jn dem Maße, wie anstelle reflexionsloser, rein gegenständlicher pwo_101.025 Wiedergabe der Thatsachen das Urteil oder doch die Empfindung des pwo_101.026 Dichters über die Thatsachen tritt, gewinnt denn auch das Epos pwo_101.027 didaktische und moralisierende Elemente. Die Personifikation der Gefühle pwo_101.028 macht es schließlich möglich, Jdeen ohne Rücksicht auf individuelle pwo_101.029 Gestalten, rein herausgestellt, auf und gegen einander wirken zu lassen. pwo_101.030 So ist der Schritt zum rein allegorischen Epos nicht mehr weit. pwo_101.031   Durchgeführte Allegorien tauchen bei uns bereits in der zweiten pwo_101.032 Hälfte des 13. Jahrhunderts auf. Konrad von Würzburg läßt pwo_101.033 in seiner „Klage der Kunst“ die personifizierte Kunst von der Phantasie pwo_101.034 in den Wald geleiten, wo Frau Kunst in zerrissenem Gewande

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/115
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/115>, abgerufen am 23.11.2024.