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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Romans. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts bildet die pwo_111.002
englische Litteratur eine Prosadichtung des Bürgertums aus, die pwo_111.003
von der zusammenhangslosen Zeichnung einzelner bürgerlicher Charaktere, pwo_111.004
wie sie die moralischen Wochenschriften boten, zu eigenartigen pwo_111.005
Kunstschöpfungen in der zusammenfassenden Form des Romans vorschritt. pwo_111.006
Neben die Addison und Steele treten die Defoe und Swift, pwo_111.007
endlich die Richardson, Fielding, Lorenz Sterne und Oliver Goldsmith.

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Alle Elemente des englischen Geistes prägen sich hier aus: sein pwo_111.009
Natürlichkeitssinn blickt den Dingen nüchtern ins Auge; praktische pwo_111.010
Auffassung des Lebens hält von träumerischer Phantasterei fern; und pwo_111.011
dabei dringt eine empfindungsvolle Reflexion durch die äußere Schale pwo_111.012
tief in den seelischen Kern der Menschen und Handlungen. Die bürgerliche pwo_111.013
Tüchtigkeit wie die peinliche Moral des dritten Standes pwo_111.014
stellen sich nun dar. Der germanische Familiensinn lädt die Muse pwo_111.015
des Romans, die so lange in ferne Gegenden auf Abenteuer zog, zur pwo_111.016
Einkehr in den stillen, friedlichen, behaglichen Bezirk des eigenen pwo_111.017
Heims. Mit echt epischer Kleinmalerei und mit einem Humor, wie pwo_111.018
er sich bei deren küustlerischer Handhabung unwillkürlich einstellt, pwo_111.019
dringt der englische Roman des 18. Jahrhunderts zunehmend tiefer pwo_111.020
in das wirkliche Leben und in die Seelen germanischer Menschen ein.

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Auch den französischen Roman führt der Genfer Rousseau ins pwo_111.022
unmittelbare Leben der Wirklichkeit, wennschon seine großartige Natur- pwo_111.023
und Liebesschwärmerei in echt romanischer Weise bewirkt, daß lyrische pwo_111.024
Accente das erzählende Grundmotiv übertönen.

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Noch in Anlehnung an den romanischen Stil, sucht vor Goethe pwo_111.026
Wieland dem deutschen Roman mit feinster Lebenskenntnis psychologische pwo_111.027
Tiefe zu verleihen. Aber schon seine griechischen und orientalischen pwo_111.028
Stoffe bilden nur ein Kostüm für Einkleidung des Seelenlebens pwo_111.029
aus des Dichters eigenem Lebenskreis.

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Goethe stellt alsdann den deutschen Roman endgiltig auf den pwo_111.031
Boden des deutschen Lebens und Empfindens. Von Sterne und pwo_111.032
Goldsmith, Rousseau und Wieland hat er gelernt, aber seine Romane pwo_111.033
sind völlig organische Gewächse seiner eigenen und im weiteren Sinne pwo_111.034
der damaligen deutschen Empfindungswelt. Mit diesem Hinweis ist pwo_111.035
ihre Größe wie ihre Grenze charakterisiert: äußere Geschehnisse treten pwo_111.036
durchweg zurück, bilden nur nebensächliche Begleiterscheinungen oder

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Romans. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts bildet die pwo_111.002
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endlich die Richardson, Fielding, Lorenz Sterne und Oliver Goldsmith.

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  Alle Elemente des englischen Geistes prägen sich hier aus: sein pwo_111.009
Natürlichkeitssinn blickt den Dingen nüchtern ins Auge; praktische pwo_111.010
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  Auch den französischen Roman führt der Genfer Rousseau ins pwo_111.022
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Accente das erzählende Grundmotiv übertönen.

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  Noch in Anlehnung an den romanischen Stil, sucht vor Goethe pwo_111.026
Wieland dem deutschen Roman mit feinster Lebenskenntnis psychologische pwo_111.027
Tiefe zu verleihen. Aber schon seine griechischen und orientalischen pwo_111.028
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Boden des deutschen Lebens und Empfindens. Von Sterne und pwo_111.032
Goldsmith, Rousseau und Wieland hat er gelernt, aber seine Romane pwo_111.033
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[111/0125] pwo_111.001 stischen Romans. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts bildet die pwo_111.002 englische Litteratur eine Prosadichtung des Bürgertums aus, die pwo_111.003 von der zusammenhangslosen Zeichnung einzelner bürgerlicher Charaktere, pwo_111.004 wie sie die moralischen Wochenschriften boten, zu eigenartigen pwo_111.005 Kunstschöpfungen in der zusammenfassenden Form des Romans vorschritt. pwo_111.006 Neben die Addison und Steele treten die Defoe und Swift, pwo_111.007 endlich die Richardson, Fielding, Lorenz Sterne und Oliver Goldsmith. pwo_111.008   Alle Elemente des englischen Geistes prägen sich hier aus: sein pwo_111.009 Natürlichkeitssinn blickt den Dingen nüchtern ins Auge; praktische pwo_111.010 Auffassung des Lebens hält von träumerischer Phantasterei fern; und pwo_111.011 dabei dringt eine empfindungsvolle Reflexion durch die äußere Schale pwo_111.012 tief in den seelischen Kern der Menschen und Handlungen. Die bürgerliche pwo_111.013 Tüchtigkeit wie die peinliche Moral des dritten Standes pwo_111.014 stellen sich nun dar. Der germanische Familiensinn lädt die Muse pwo_111.015 des Romans, die so lange in ferne Gegenden auf Abenteuer zog, zur pwo_111.016 Einkehr in den stillen, friedlichen, behaglichen Bezirk des eigenen pwo_111.017 Heims. Mit echt epischer Kleinmalerei und mit einem Humor, wie pwo_111.018 er sich bei deren küustlerischer Handhabung unwillkürlich einstellt, pwo_111.019 dringt der englische Roman des 18. Jahrhunderts zunehmend tiefer pwo_111.020 in das wirkliche Leben und in die Seelen germanischer Menschen ein. pwo_111.021   Auch den französischen Roman führt der Genfer Rousseau ins pwo_111.022 unmittelbare Leben der Wirklichkeit, wennschon seine großartige Natur- pwo_111.023 und Liebesschwärmerei in echt romanischer Weise bewirkt, daß lyrische pwo_111.024 Accente das erzählende Grundmotiv übertönen. pwo_111.025   Noch in Anlehnung an den romanischen Stil, sucht vor Goethe pwo_111.026 Wieland dem deutschen Roman mit feinster Lebenskenntnis psychologische pwo_111.027 Tiefe zu verleihen. Aber schon seine griechischen und orientalischen pwo_111.028 Stoffe bilden nur ein Kostüm für Einkleidung des Seelenlebens pwo_111.029 aus des Dichters eigenem Lebenskreis. pwo_111.030   Goethe stellt alsdann den deutschen Roman endgiltig auf den pwo_111.031 Boden des deutschen Lebens und Empfindens. Von Sterne und pwo_111.032 Goldsmith, Rousseau und Wieland hat er gelernt, aber seine Romane pwo_111.033 sind völlig organische Gewächse seiner eigenen und im weiteren Sinne pwo_111.034 der damaligen deutschen Empfindungswelt. Mit diesem Hinweis ist pwo_111.035 ihre Größe wie ihre Grenze charakterisiert: äußere Geschehnisse treten pwo_111.036 durchweg zurück, bilden nur nebensächliche Begleiterscheinungen oder

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/125>, abgerufen am 23.11.2024.