Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_120.001
könnten. Jedenfalls ist ihr Jnhalt zunächst religiös, ihre Form pwo_120.002
äußerst primitiv. Wohl mehr als zwei Jahrtausende vor Christi pwo_120.003
Geburt fallen einige auf uns gekommene babylonische Bußpsalmen, pwo_120.004
die sich in Anrufung der Gottheit nimmer genug thun können, dazwischen pwo_120.005
aber Ansätze erzählenden Charakters bieten:

pwo_120.006
"Daß meines Herrn Zorn sich besänftige! pwo_120.007
Daß der mir unbekannte Gott sich besänftige! pwo_120.008
Die mir unbekannte Göttin sich besänftige! pwo_120.009
Bekannter und unbekannter Gott sich besänftige! pwo_120.010
Bekannte und unbekannte Göttin sich besänftige!" etc.
pwo_120.011

Nachdem so der lyrische Accent immer weiter in geringen Variationen pwo_120.012
litaneiartig wiederkehrt, heißt es:

pwo_120.013
"Reine Speise habe ich nicht gegessen, pwo_120.014
Klares Wasser habe ich nicht getrunken, pwo_120.015
Das Leid von meinem Gott, unvermerkt ward es meine Speise, pwo_120.016
Das Ungemach von meiner Göttin, unvermerkt trat es mich nieder."
pwo_120.017

Nach zahlreichen Sündenbeteuerungen spinnt sich der Stil in unendlichen pwo_120.018
Wiederholungen zu neuen Aussagen fort:

pwo_120.019
"Die Sünde, die ich gethan, kenne ich nicht; pwo_120.020
Die Missethat, die ich begangen, kenne ich nicht. pwo_120.021
Das Leid, das meine Speise ward, - nicht weiß ich's, wie? pwo_120.022
Das Ungemach, das mich niedertrat, - nicht weiß ich's, wie? pwo_120.023
Der Herr hat im Zorn seines Herzens mich angeblickt, pwo_120.024
Der Gott hat im Grimm seines Herzens mich heimgesucht" etc. -
pwo_120.025

Der episch-lyrische Charakter der uns überlieferten religiösen pwo_120.026
Vedenpoesie Jndiens trat uns bereits in den prinzipiellen Erörterungen pwo_120.027
über die Priorität des epischen Entwicklungszuges entgegen.

pwo_120.028

Aber auch die nicht im Sanskrit, sondern in der Volkssprache, pwo_120.029
besonders dem Prakrit, gedichteten Lieder müssen wir ins Auge fassen, pwo_120.030
wollen wir der Lyrik "in des Ursprungs Tiefe dringen". Der epische pwo_120.031
Kern ist gewöhnlich nur lose von lyrischem Gewande umkleidet. Da pwo_120.032
geschieht es, daß der Verstorbene durch plastische Vergegenwärtigung pwo_120.033
seiner Vorzüge von der Gattin beklagt wird:

pwo_120.034
"Ach, noch immer vor den Augen pwo_120.035
Schwebt mir seine Wohlgestalt, pwo_120.036
Fühl' auf meine Lippen hauchen pwo_120.037
Seiner Liebe Vollgehalt.

pwo_120.001
könnten. Jedenfalls ist ihr Jnhalt zunächst religiös, ihre Form pwo_120.002
äußerst primitiv. Wohl mehr als zwei Jahrtausende vor Christi pwo_120.003
Geburt fallen einige auf uns gekommene babylonische Bußpsalmen, pwo_120.004
die sich in Anrufung der Gottheit nimmer genug thun können, dazwischen pwo_120.005
aber Ansätze erzählenden Charakters bieten:

pwo_120.006
„Daß meines Herrn Zorn sich besänftige! pwo_120.007
Daß der mir unbekannte Gott sich besänftige! pwo_120.008
Die mir unbekannte Göttin sich besänftige! pwo_120.009
Bekannter und unbekannter Gott sich besänftige! pwo_120.010
Bekannte und unbekannte Göttin sich besänftige!“ etc.
pwo_120.011

Nachdem so der lyrische Accent immer weiter in geringen Variationen pwo_120.012
litaneiartig wiederkehrt, heißt es:

pwo_120.013
„Reine Speise habe ich nicht gegessen, pwo_120.014
Klares Wasser habe ich nicht getrunken, pwo_120.015
Das Leid von meinem Gott, unvermerkt ward es meine Speise, pwo_120.016
Das Ungemach von meiner Göttin, unvermerkt trat es mich nieder.“
pwo_120.017

Nach zahlreichen Sündenbeteuerungen spinnt sich der Stil in unendlichen pwo_120.018
Wiederholungen zu neuen Aussagen fort:

pwo_120.019
„Die Sünde, die ich gethan, kenne ich nicht; pwo_120.020
Die Missethat, die ich begangen, kenne ich nicht. pwo_120.021
Das Leid, das meine Speise ward, – nicht weiß ich's, wie? pwo_120.022
Das Ungemach, das mich niedertrat, – nicht weiß ich's, wie? pwo_120.023
Der Herr hat im Zorn seines Herzens mich angeblickt, pwo_120.024
Der Gott hat im Grimm seines Herzens mich heimgesucht“ etc. –
pwo_120.025

  Der episch-lyrische Charakter der uns überlieferten religiösen pwo_120.026
Vedenpoesie Jndiens trat uns bereits in den prinzipiellen Erörterungen pwo_120.027
über die Priorität des epischen Entwicklungszuges entgegen.

pwo_120.028

  Aber auch die nicht im Sanskrit, sondern in der Volkssprache, pwo_120.029
besonders dem Prakrit, gedichteten Lieder müssen wir ins Auge fassen, pwo_120.030
wollen wir der Lyrik „in des Ursprungs Tiefe dringen“. Der epische pwo_120.031
Kern ist gewöhnlich nur lose von lyrischem Gewande umkleidet. Da pwo_120.032
geschieht es, daß der Verstorbene durch plastische Vergegenwärtigung pwo_120.033
seiner Vorzüge von der Gattin beklagt wird:

pwo_120.034
  „Ach, noch immer vor den Augen pwo_120.035
Schwebt mir seine Wohlgestalt, pwo_120.036
Fühl' auf meine Lippen hauchen pwo_120.037
Seiner Liebe Vollgehalt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0134" n="120"/><lb n="pwo_120.001"/>
könnten. Jedenfalls ist ihr Jnhalt zunächst <hi rendition="#g">religiös,</hi> ihre Form <lb n="pwo_120.002"/>
äußerst <hi rendition="#g">primitiv.</hi> Wohl mehr als zwei Jahrtausende vor Christi <lb n="pwo_120.003"/>
Geburt fallen einige auf uns gekommene <hi rendition="#g">babylonische</hi> Bußpsalmen, <lb n="pwo_120.004"/>
die sich in <hi rendition="#g">Anrufung</hi> der Gottheit nimmer genug thun können, dazwischen <lb n="pwo_120.005"/>
aber Ansätze erzählenden Charakters bieten:</p>
            <lb n="pwo_120.006"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Daß meines Herrn Zorn sich besänftige!</l>
              <lb n="pwo_120.007"/>
              <l>Daß der mir unbekannte Gott sich besänftige!</l>
              <lb n="pwo_120.008"/>
              <l>Die mir unbekannte Göttin sich besänftige!</l>
              <lb n="pwo_120.009"/>
              <l>Bekannter und unbekannter Gott sich besänftige!</l>
              <lb n="pwo_120.010"/>
              <l>Bekannte und unbekannte Göttin sich besänftige!&#x201C; etc.</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_120.011"/>
            <p>Nachdem so der lyrische Accent immer weiter in geringen Variationen <lb n="pwo_120.012"/>
litaneiartig wiederkehrt, heißt es:</p>
            <lb n="pwo_120.013"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Reine Speise habe ich nicht gegessen,</l>
              <lb n="pwo_120.014"/>
              <l>Klares Wasser habe ich nicht getrunken,</l>
              <lb n="pwo_120.015"/>
              <l>Das Leid von meinem Gott, unvermerkt ward es meine Speise,</l>
              <lb n="pwo_120.016"/>
              <l>Das Ungemach von meiner Göttin, unvermerkt trat es mich nieder.&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_120.017"/>
            <p>Nach zahlreichen Sündenbeteuerungen spinnt sich der Stil in unendlichen <lb n="pwo_120.018"/>
Wiederholungen zu neuen Aussagen fort:</p>
            <lb n="pwo_120.019"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Die Sünde, die ich gethan, kenne ich nicht;</l>
              <lb n="pwo_120.020"/>
              <l>Die Missethat, die ich begangen, kenne ich nicht.</l>
              <lb n="pwo_120.021"/>
              <l>Das Leid, das meine Speise ward, &#x2013; nicht weiß ich's, wie?</l>
              <lb n="pwo_120.022"/>
              <l>Das Ungemach, das mich niedertrat, &#x2013; nicht weiß ich's, wie?</l>
              <lb n="pwo_120.023"/>
              <l>Der Herr hat im Zorn seines Herzens mich angeblickt,</l>
              <lb n="pwo_120.024"/>
              <l>Der Gott hat im Grimm seines Herzens mich heimgesucht&#x201C; etc. &#x2013;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_120.025"/>
            <p>  Der episch-lyrische Charakter der uns überlieferten religiösen <lb n="pwo_120.026"/>
Vedenpoesie <hi rendition="#g">Jndiens</hi> trat uns bereits in den prinzipiellen Erörterungen <lb n="pwo_120.027"/>
über die Priorität des epischen Entwicklungszuges entgegen.</p>
            <lb n="pwo_120.028"/>
            <p>  Aber auch die nicht im Sanskrit, sondern in der Volkssprache, <lb n="pwo_120.029"/>
besonders dem Prakrit, gedichteten Lieder müssen wir ins Auge fassen, <lb n="pwo_120.030"/>
wollen wir der Lyrik &#x201E;in des Ursprungs Tiefe dringen&#x201C;. Der epische <lb n="pwo_120.031"/>
Kern ist gewöhnlich nur lose von lyrischem Gewande umkleidet. Da <lb n="pwo_120.032"/>
geschieht es, daß der Verstorbene durch plastische Vergegenwärtigung <lb n="pwo_120.033"/>
seiner Vorzüge von der Gattin beklagt wird:</p>
            <lb n="pwo_120.034"/>
            <lg>
              <l>  &#x201E;Ach, noch immer vor den Augen</l>
              <lb n="pwo_120.035"/>
              <l>Schwebt mir seine Wohlgestalt,</l>
              <lb n="pwo_120.036"/>
              <l>Fühl' auf meine Lippen hauchen</l>
              <lb n="pwo_120.037"/>
              <l>Seiner Liebe Vollgehalt.</l>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[120/0134] pwo_120.001 könnten. Jedenfalls ist ihr Jnhalt zunächst religiös, ihre Form pwo_120.002 äußerst primitiv. Wohl mehr als zwei Jahrtausende vor Christi pwo_120.003 Geburt fallen einige auf uns gekommene babylonische Bußpsalmen, pwo_120.004 die sich in Anrufung der Gottheit nimmer genug thun können, dazwischen pwo_120.005 aber Ansätze erzählenden Charakters bieten: pwo_120.006 „Daß meines Herrn Zorn sich besänftige! pwo_120.007 Daß der mir unbekannte Gott sich besänftige! pwo_120.008 Die mir unbekannte Göttin sich besänftige! pwo_120.009 Bekannter und unbekannter Gott sich besänftige! pwo_120.010 Bekannte und unbekannte Göttin sich besänftige!“ etc. pwo_120.011 Nachdem so der lyrische Accent immer weiter in geringen Variationen pwo_120.012 litaneiartig wiederkehrt, heißt es: pwo_120.013 „Reine Speise habe ich nicht gegessen, pwo_120.014 Klares Wasser habe ich nicht getrunken, pwo_120.015 Das Leid von meinem Gott, unvermerkt ward es meine Speise, pwo_120.016 Das Ungemach von meiner Göttin, unvermerkt trat es mich nieder.“ pwo_120.017 Nach zahlreichen Sündenbeteuerungen spinnt sich der Stil in unendlichen pwo_120.018 Wiederholungen zu neuen Aussagen fort: pwo_120.019 „Die Sünde, die ich gethan, kenne ich nicht; pwo_120.020 Die Missethat, die ich begangen, kenne ich nicht. pwo_120.021 Das Leid, das meine Speise ward, – nicht weiß ich's, wie? pwo_120.022 Das Ungemach, das mich niedertrat, – nicht weiß ich's, wie? pwo_120.023 Der Herr hat im Zorn seines Herzens mich angeblickt, pwo_120.024 Der Gott hat im Grimm seines Herzens mich heimgesucht“ etc. – pwo_120.025   Der episch-lyrische Charakter der uns überlieferten religiösen pwo_120.026 Vedenpoesie Jndiens trat uns bereits in den prinzipiellen Erörterungen pwo_120.027 über die Priorität des epischen Entwicklungszuges entgegen. pwo_120.028   Aber auch die nicht im Sanskrit, sondern in der Volkssprache, pwo_120.029 besonders dem Prakrit, gedichteten Lieder müssen wir ins Auge fassen, pwo_120.030 wollen wir der Lyrik „in des Ursprungs Tiefe dringen“. Der epische pwo_120.031 Kern ist gewöhnlich nur lose von lyrischem Gewande umkleidet. Da pwo_120.032 geschieht es, daß der Verstorbene durch plastische Vergegenwärtigung pwo_120.033 seiner Vorzüge von der Gattin beklagt wird: pwo_120.034   „Ach, noch immer vor den Augen pwo_120.035 Schwebt mir seine Wohlgestalt, pwo_120.036 Fühl' auf meine Lippen hauchen pwo_120.037 Seiner Liebe Vollgehalt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/134
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/134>, abgerufen am 23.11.2024.