Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_144.001
sich der Name Vaudeville herleitet, und wie Francois Villon bezeichnet pwo_144.002
ist. Aehnlich wirkt zunächst die Troubadourdichtung nach Jtalien pwo_144.003
hinüber, und nicht minder trägt die Renaissance-Lyrik Petrarkas pwo_144.004
einen gelehrten Anstrich; daneben aber erwacht und erstarkt eine pwo_144.005
volkstümliche Liederdichtung, die, aus dem Bürgertum geboren, in pwo_144.006
freiem, leichtem Tone meist Vorfälle des Alltagslebens besingt.

pwo_144.007
§ 66. pwo_144.008
Die Anfänge der deutschen Lyrik.
pwo_144.009

Nehmen wir allein auf die zu litterarischer Aufzeichnung gelangte pwo_144.010
Lyrik bezug, so bietet die deutsche Dichtung dasselbe Schauspiel: an pwo_144.011
die Minnepoesie des 12. und 13. Jahrhunderts reiht sich seit dem pwo_144.012
14. und 15. Jahrhundert eine reiche Blüte des lyrischen Volksliedes. pwo_144.013
Es fragt sich freilich, wie weit dieser Sang des Volkes auf ältere pwo_144.014
Quellen zurückgeht oder doch an ältere Traditionen anknüpft.

pwo_144.015

Die Hypothese hat denn auch Vertreter gefunden, daß der ritterlichen pwo_144.016
Lyrik des 12. Jahrhunderts von je ein organisches Leben des pwo_144.017
lyrischen Volksliedes vorausgegangen sei. Unmittelbare Reste haben pwo_144.018
sich nicht erhalten; die mittelbaren Zeugnisse sind überaus spärlich, pwo_144.019
verdienen aber sorgsame Beachtung.

pwo_144.020

Vor allem verbietet bereits ein Kapitular Karls des Großen pwo_144.021
vom Jahre 789 den Nonnen, "winileodos scribere vel mittere". pwo_144.022
Die Stelle lautet (bei Boretius):

pwo_144.023

"De monasteriis minutis ubi nonnanes sine regula pwo_144.024
sedent, volumus ut in unum locum congregatio fiat pwo_144.025
regularis, et episcopus praevideat ubi fieri possint. pwo_144.026
Et ut nulla abbatissa foras monasterio exire non pwo_144.027
praesumat sine nostra jussione nec sibi subditas facere pwo_144.028
permittat; et earum claustra sint bene firmata, et pwo_144.029
nullatenus ibi winileodos scribere vel mittere pwo_144.030
praesumant:
et de pallore earum propter pwo_144.031
sanguinis minuationem
."

pwo_144.032

Winileodos schlechtweg als Liebeslieder aufzufassen, welche die Nonnen pwo_144.033
an ihre geliebten Männer gesandt haben sollten, dürfte um so pwo_144.034
kühner sein, als eine derartig offenbare Versündigung an dem Klostergelübde

pwo_144.001
sich der Name Vaudeville herleitet, und wie François Villon bezeichnet pwo_144.002
ist. Aehnlich wirkt zunächst die Troubadourdichtung nach Jtalien pwo_144.003
hinüber, und nicht minder trägt die Renaissance-Lyrik Petrarkas pwo_144.004
einen gelehrten Anstrich; daneben aber erwacht und erstarkt eine pwo_144.005
volkstümliche Liederdichtung, die, aus dem Bürgertum geboren, in pwo_144.006
freiem, leichtem Tone meist Vorfälle des Alltagslebens besingt.

pwo_144.007
§ 66. pwo_144.008
Die Anfänge der deutschen Lyrik.
pwo_144.009

  Nehmen wir allein auf die zu litterarischer Aufzeichnung gelangte pwo_144.010
Lyrik bezug, so bietet die deutsche Dichtung dasselbe Schauspiel: an pwo_144.011
die Minnepoesie des 12. und 13. Jahrhunderts reiht sich seit dem pwo_144.012
14. und 15. Jahrhundert eine reiche Blüte des lyrischen Volksliedes. pwo_144.013
Es fragt sich freilich, wie weit dieser Sang des Volkes auf ältere pwo_144.014
Quellen zurückgeht oder doch an ältere Traditionen anknüpft.

pwo_144.015

  Die Hypothese hat denn auch Vertreter gefunden, daß der ritterlichen pwo_144.016
Lyrik des 12. Jahrhunderts von je ein organisches Leben des pwo_144.017
lyrischen Volksliedes vorausgegangen sei. Unmittelbare Reste haben pwo_144.018
sich nicht erhalten; die mittelbaren Zeugnisse sind überaus spärlich, pwo_144.019
verdienen aber sorgsame Beachtung.

pwo_144.020

  Vor allem verbietet bereits ein Kapitular Karls des Großen pwo_144.021
vom Jahre 789 den Nonnen, „winileodos scribere vel mittere“. pwo_144.022
Die Stelle lautet (bei Boretius):

pwo_144.023

De monasteriis minutis ubi nonnanes sine regula pwo_144.024
sedent, volumus ut in unum locum congregatio fiat pwo_144.025
regularis, et episcopus praevideat ubi fieri possint. pwo_144.026
Et ut nulla abbatissa foras monasterio exire non pwo_144.027
praesumat sine nostra jussione nec sibi subditas facere pwo_144.028
permittat; et earum claustra sint bene firmata, et pwo_144.029
nullatenus ibi winileodos scribere vel mittere pwo_144.030
praesumant:
et de pallore earum propter pwo_144.031
sanguinis minuationem
.“

pwo_144.032

Winileodos schlechtweg als Liebeslieder aufzufassen, welche die Nonnen pwo_144.033
an ihre geliebten Männer gesandt haben sollten, dürfte um so pwo_144.034
kühner sein, als eine derartig offenbare Versündigung an dem Klostergelübde

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0158" n="144"/><lb n="pwo_144.001"/>
sich der Name Vaudeville herleitet, und wie Fran<hi rendition="#aq">ç</hi>ois Villon bezeichnet <lb n="pwo_144.002"/>
ist. Aehnlich wirkt zunächst die Troubadourdichtung nach <hi rendition="#g">Jtalien</hi> <lb n="pwo_144.003"/>
hinüber, und nicht minder trägt die Renaissance-Lyrik Petrarkas <lb n="pwo_144.004"/>
einen gelehrten Anstrich; daneben aber erwacht und erstarkt eine <lb n="pwo_144.005"/>
volkstümliche Liederdichtung, die, aus dem Bürgertum geboren, in <lb n="pwo_144.006"/>
freiem, leichtem Tone meist Vorfälle des Alltagslebens besingt.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pwo_144.007"/>
            <head> <hi rendition="#c">§ 66. <lb n="pwo_144.008"/>
Die Anfänge der deutschen Lyrik.</hi> </head>
            <lb n="pwo_144.009"/>
            <p>  Nehmen wir allein auf die zu litterarischer Aufzeichnung gelangte <lb n="pwo_144.010"/>
Lyrik bezug, so bietet die deutsche Dichtung dasselbe Schauspiel: an <lb n="pwo_144.011"/>
die Minnepoesie des 12. und 13. Jahrhunderts reiht sich seit dem <lb n="pwo_144.012"/>
14. und 15. Jahrhundert eine reiche Blüte des lyrischen Volksliedes. <lb n="pwo_144.013"/>
Es fragt sich freilich, wie weit dieser Sang des Volkes auf ältere <lb n="pwo_144.014"/>
Quellen zurückgeht oder doch an ältere Traditionen anknüpft.</p>
            <lb n="pwo_144.015"/>
            <p>  Die Hypothese hat denn auch Vertreter gefunden, daß der ritterlichen <lb n="pwo_144.016"/>
Lyrik des 12. Jahrhunderts von je ein organisches Leben des <lb n="pwo_144.017"/>
lyrischen Volksliedes vorausgegangen sei. Unmittelbare Reste haben <lb n="pwo_144.018"/>
sich nicht erhalten; die mittelbaren Zeugnisse sind überaus spärlich, <lb n="pwo_144.019"/>
verdienen aber sorgsame Beachtung.</p>
            <lb n="pwo_144.020"/>
            <p>  Vor allem verbietet bereits ein Kapitular Karls des Großen <lb n="pwo_144.021"/>
vom Jahre 789 den Nonnen, &#x201E;<hi rendition="#aq">winileodos scribere vel mittere</hi>&#x201C;. <lb n="pwo_144.022"/>
Die Stelle lautet (bei Boretius):</p>
            <lb n="pwo_144.023"/>
            <p> <hi rendition="#et">&#x201E;<hi rendition="#aq">De monasteriis minutis ubi nonnanes sine regula <lb n="pwo_144.024"/>
sedent, volumus ut in unum locum congregatio fiat <lb n="pwo_144.025"/>
regularis, et episcopus praevideat ubi fieri possint. <lb n="pwo_144.026"/>
Et ut nulla abbatissa foras monasterio exire non <lb n="pwo_144.027"/>
praesumat sine nostra jussione nec sibi subditas facere <lb n="pwo_144.028"/>
permittat; et earum claustra sint bene firmata, et <lb n="pwo_144.029"/> <hi rendition="#g">nullatenus ibi winileodos scribere vel mittere <lb n="pwo_144.030"/>
praesumant:</hi> et de pallore earum propter <lb n="pwo_144.031"/>
sanguinis minuationem</hi>.&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_144.032"/>
            <p><hi rendition="#aq">Winileodos</hi> schlechtweg als Liebeslieder aufzufassen, welche die Nonnen <lb n="pwo_144.033"/>
an ihre geliebten Männer gesandt haben sollten, dürfte um so <lb n="pwo_144.034"/>
kühner sein, als eine derartig offenbare Versündigung an dem Klostergelübde
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0158] pwo_144.001 sich der Name Vaudeville herleitet, und wie François Villon bezeichnet pwo_144.002 ist. Aehnlich wirkt zunächst die Troubadourdichtung nach Jtalien pwo_144.003 hinüber, und nicht minder trägt die Renaissance-Lyrik Petrarkas pwo_144.004 einen gelehrten Anstrich; daneben aber erwacht und erstarkt eine pwo_144.005 volkstümliche Liederdichtung, die, aus dem Bürgertum geboren, in pwo_144.006 freiem, leichtem Tone meist Vorfälle des Alltagslebens besingt. pwo_144.007 § 66. pwo_144.008 Die Anfänge der deutschen Lyrik. pwo_144.009   Nehmen wir allein auf die zu litterarischer Aufzeichnung gelangte pwo_144.010 Lyrik bezug, so bietet die deutsche Dichtung dasselbe Schauspiel: an pwo_144.011 die Minnepoesie des 12. und 13. Jahrhunderts reiht sich seit dem pwo_144.012 14. und 15. Jahrhundert eine reiche Blüte des lyrischen Volksliedes. pwo_144.013 Es fragt sich freilich, wie weit dieser Sang des Volkes auf ältere pwo_144.014 Quellen zurückgeht oder doch an ältere Traditionen anknüpft. pwo_144.015   Die Hypothese hat denn auch Vertreter gefunden, daß der ritterlichen pwo_144.016 Lyrik des 12. Jahrhunderts von je ein organisches Leben des pwo_144.017 lyrischen Volksliedes vorausgegangen sei. Unmittelbare Reste haben pwo_144.018 sich nicht erhalten; die mittelbaren Zeugnisse sind überaus spärlich, pwo_144.019 verdienen aber sorgsame Beachtung. pwo_144.020   Vor allem verbietet bereits ein Kapitular Karls des Großen pwo_144.021 vom Jahre 789 den Nonnen, „winileodos scribere vel mittere“. pwo_144.022 Die Stelle lautet (bei Boretius): pwo_144.023 „De monasteriis minutis ubi nonnanes sine regula pwo_144.024 sedent, volumus ut in unum locum congregatio fiat pwo_144.025 regularis, et episcopus praevideat ubi fieri possint. pwo_144.026 Et ut nulla abbatissa foras monasterio exire non pwo_144.027 praesumat sine nostra jussione nec sibi subditas facere pwo_144.028 permittat; et earum claustra sint bene firmata, et pwo_144.029 nullatenus ibi winileodos scribere vel mittere pwo_144.030 praesumant: et de pallore earum propter pwo_144.031 sanguinis minuationem.“ pwo_144.032 Winileodos schlechtweg als Liebeslieder aufzufassen, welche die Nonnen pwo_144.033 an ihre geliebten Männer gesandt haben sollten, dürfte um so pwo_144.034 kühner sein, als eine derartig offenbare Versündigung an dem Klostergelübde

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/158
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/158>, abgerufen am 21.11.2024.