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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Auch wird selbst von den Anhängern dieser Hypothese - und pwo_147.002
damit nähern sie sich wiederum der Anerkennung geschichtlicher Erscheinungen pwo_147.003
- ein weitgehend objektiver Charakter der ältesten Lyrik pwo_147.004
vorausgesetzt: sie sei gewiß mehr thatsächlich als grübelnd, mehr synthetisch pwo_147.005
als analytisch gewesen. Es scheint danach weniger über die pwo_147.006
Form als über den Zeitpunkt der ursprünglichen Lyrik Zwiespalt pwo_147.007
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Nötigte uns die Geschichte und Entwicklung auch gerade unserer pwo_147.009
heimischen Dichtung zur Annahme epischer Priorität, so ist damit pwo_147.010
keineswegs die Möglichkeit ausgeschlossen, daß schon gewisse Zeit vor pwo_147.011
dem Auftreten der Lyrik in der Litteratur zunächst in mündlicher pwo_147.012
Verkündung und Fortpflanzung eine poetische Form auflebte, die pwo_147.013
aus der Erzählung vergangener Geschehnisse in die Aussprache unmittelbarer pwo_147.014
Empfindungen überleitet.

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Jnwieweit sich für eine solche Ansetzung thatsächliche wissenschaftliche pwo_147.016
Begründung bietet, kann bei dem Mangel früheren Erfahrungsmaterials pwo_147.017
nur aus Betrachtung der ältesten überlieferten Lyrik nach pwo_147.018
ihrem geistigen Gehalt wie nach ihrer innern und äußern Form pwo_147.019
erhellen.

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Wirklich ragt in die älteste bekannte deutsche Lyrik eine grundlegende pwo_147.021
Auffassung hinein, die in einen gewissen Gegensatz zu der pwo_147.022
späteren Etappe der Ritterdichtung tritt. Es handelt sich um das pwo_147.023
für Liebeslyrik ausschlaggebende Verhältnis der Geschlechter. Jn den pwo_147.024
Liedern des Kürenbergers, und zwar sowohl in den Strophen, welche pwo_147.025
Frauen in den Mund gelegt werden, wie nach den Aeußerungen des pwo_147.026
Mannes, erscheint das Weib als der werbende, hingebungsvolle pwo_147.027
Teil,
während der Mann sich herrisch und zurückhaltend giebt. pwo_147.028
Aus dem Munde der Frau tönt es:

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"Bit in daz er mir holt sei, als er hie vor was";

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sie klagt:

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"Eines hubeschen ritters gewan ich kunde: pwo_147.032
daz mir den benomen han die merker und ir neit, pwo_147.033
des mohte mir mein herze nie fro werden seit";
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sie droht dem Sänger in stürmischer Werbung:

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"Er muoz mir diu lant raumen, ald ich geniete mich sein";

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stolz giebt der Ritter zurück:

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  Auch wird selbst von den Anhängern dieser Hypothese – und pwo_147.002
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  Nötigte uns die Geschichte und Entwicklung auch gerade unserer pwo_147.009
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Verkündung und Fortpflanzung eine poetische Form auflebte, die pwo_147.013
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  Wirklich ragt in die älteste bekannte deutsche Lyrik eine grundlegende pwo_147.021
Auffassung hinein, die in einen gewissen Gegensatz zu der pwo_147.022
späteren Etappe der Ritterdichtung tritt. Es handelt sich um das pwo_147.023
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Frauen in den Mund gelegt werden, wie nach den Aeußerungen des pwo_147.026
Mannes, erscheint das Weib als der werbende, hingebungsvolle pwo_147.027
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während der Mann sich herrisch und zurückhaltend giebt. pwo_147.028
Aus dem Munde der Frau tönt es:

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„Bit in daz er mir holt sî, als er hie vor was“;

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sie klagt:

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Eines hubeschen ritters gewan ich kunde: pwo_147.032
daz mir den benomen hân die merker und ir nît, pwo_147.033
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sie droht dem Sänger in stürmischer Werbung:

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„Er muoz mir diu lant rûmen, ald ich geniete mich sîn“;

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stolz giebt der Ritter zurück:

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[147/0161] pwo_147.001   Auch wird selbst von den Anhängern dieser Hypothese – und pwo_147.002 damit nähern sie sich wiederum der Anerkennung geschichtlicher Erscheinungen pwo_147.003 – ein weitgehend objektiver Charakter der ältesten Lyrik pwo_147.004 vorausgesetzt: sie sei gewiß mehr thatsächlich als grübelnd, mehr synthetisch pwo_147.005 als analytisch gewesen. Es scheint danach weniger über die pwo_147.006 Form als über den Zeitpunkt der ursprünglichen Lyrik Zwiespalt pwo_147.007 zu bestehen. pwo_147.008   Nötigte uns die Geschichte und Entwicklung auch gerade unserer pwo_147.009 heimischen Dichtung zur Annahme epischer Priorität, so ist damit pwo_147.010 keineswegs die Möglichkeit ausgeschlossen, daß schon gewisse Zeit vor pwo_147.011 dem Auftreten der Lyrik in der Litteratur zunächst in mündlicher pwo_147.012 Verkündung und Fortpflanzung eine poetische Form auflebte, die pwo_147.013 aus der Erzählung vergangener Geschehnisse in die Aussprache unmittelbarer pwo_147.014 Empfindungen überleitet. pwo_147.015   Jnwieweit sich für eine solche Ansetzung thatsächliche wissenschaftliche pwo_147.016 Begründung bietet, kann bei dem Mangel früheren Erfahrungsmaterials pwo_147.017 nur aus Betrachtung der ältesten überlieferten Lyrik nach pwo_147.018 ihrem geistigen Gehalt wie nach ihrer innern und äußern Form pwo_147.019 erhellen. pwo_147.020   Wirklich ragt in die älteste bekannte deutsche Lyrik eine grundlegende pwo_147.021 Auffassung hinein, die in einen gewissen Gegensatz zu der pwo_147.022 späteren Etappe der Ritterdichtung tritt. Es handelt sich um das pwo_147.023 für Liebeslyrik ausschlaggebende Verhältnis der Geschlechter. Jn den pwo_147.024 Liedern des Kürenbergers, und zwar sowohl in den Strophen, welche pwo_147.025 Frauen in den Mund gelegt werden, wie nach den Aeußerungen des pwo_147.026 Mannes, erscheint das Weib als der werbende, hingebungsvolle pwo_147.027 Teil, während der Mann sich herrisch und zurückhaltend giebt. pwo_147.028 Aus dem Munde der Frau tönt es: pwo_147.029 „Bit in daz er mir holt sî, als er hie vor was“; pwo_147.030 sie klagt: pwo_147.031 „Eines hubeschen ritters gewan ich kunde: pwo_147.032 daz mir den benomen hân die merker und ir nît, pwo_147.033 des mohte mir mîn herze nie frô werden sît“; pwo_147.034 sie droht dem Sänger in stürmischer Werbung: pwo_147.035 „Er muoz mir diu lant rûmen, ald ich geniete mich sîn“; pwo_147.036 stolz giebt der Ritter zurück:

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/161>, abgerufen am 21.11.2024.