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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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"Nu brinc mir her vil balde mein ros, mein eisengwant, pwo_148.002
wan ich muoz einer frouwen raumen diu lant: pwo_148.003
diu wil mich des betwingen daz ich ir holt sei. pwo_148.004
si mnoz der meiner minne iemer darbende sein."

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Zurückhaltend wagt der Mann nicht die Schlafende zu wecken, während pwo_148.006
ihre Leidenschaft ausbricht:

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"Des gehazze got den deinen leip! pwo_148.008
jo enwas ich niht ein wilde ber."
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Sie ist es, die nächtens seiner denkt:

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"so erbluojet sich mein varwe als der rose am dorne tuot pwo_148.011
und gewinnet mir daz herze vil manigen traurigen muot."
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Wie einen Falken hat sie ihn gehegt und geschmückt, mehr als ein pwo_148.013
Jahr auf ihn all ihre Sorgfalt gewandt; er aber,

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"er huop sich auf vil hohe und floug in anderiu lant."

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Selbst den Blitz ihrer Augen will er vor Zeugen ablenken: auf einen pwo_148.016
andern Mann soll die Schöne ihre Augen gehen lassen, damit niemand pwo_148.017
weiß, wie es zwischen ihnen bestellt. - Des Ritters Auserkorene pwo_148.018
ist eine züchtige Jungfrau, - ebenfalls in Gegensatz zu der pwo_148.019
überhandnehmenden Unsitte, verheirateten Frauen zu huldigen; nur pwo_148.020
durch Boten kann er mit ihr verkehren: so gern er selbst seine Werbung pwo_148.021
vorbrächte, gilt es doch ihren Ruf zu schonen. Jm übrigen ist pwo_148.022
sein Mannesstolz gar hochgemut:

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"Weip unde vederspil die werdent leihte zam: pwo_148.024
swer si ze rehte lucket, so suochent si den man."
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Aehnlich erscheint auch in mehreren Liedern Dietmars von Aist pwo_148.026
das Weib bald der Liebe harrend, bald um Liebe flehend. Sie pwo_148.027
warnt den Geliebten vor Treulosigkeit und mahnt ihn an das Wohlgefallen, pwo_148.028
das sie einst bei ihm gefunden. Sie quält sich mit der Frage:

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"Waz ist fur daz trauren guot daz weip nach lieben manne hat?"

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Dieses eigentlich doch natürliche Verhältnis der Geschlechter, das pwo_148.031
Emporblicken des Weibes zu dem Mann, auf dessen Tüchtigkeit sie im pwo_148.032
besten Sinne stolz ist, kommt in einer Frauenstrophe des Burggrafen pwo_148.033
von Regensburg zu besonders klarer Aussprache:

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"Ich bin mit rehter staete eim guoten reiter undertan. pwo_148.035
wie sanfte ez meinem herzen tuot swenn ich in umbevangen han!
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„Nu brinc mir her vil balde mîn ros, mîn îsengwant, pwo_148.002
wan ich muoz einer frouwen rûmen diu lant: pwo_148.003
diu wil mich des betwingen daz ich ir holt sî. pwo_148.004
si mnoz der mîner minne iemer darbende sîn.“

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Zurückhaltend wagt der Mann nicht die Schlafende zu wecken, während pwo_148.006
ihre Leidenschaft ausbricht:

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Des gehazze got den dînen lîp! pwo_148.008
jo enwas ich niht ein wilde bêr.“
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Sie ist es, die nächtens seiner denkt:

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und gewinnet mir daz herze vil manigen trûrigen muot.“
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Selbst den Blitz ihrer Augen will er vor Zeugen ablenken: auf einen pwo_148.016
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vorbrächte, gilt es doch ihren Ruf zu schonen. Jm übrigen ist pwo_148.022
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Wîp unde vederspil die werdent lîhte zam: pwo_148.024
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warnt den Geliebten vor Treulosigkeit und mahnt ihn an das Wohlgefallen, pwo_148.028
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  Dieses eigentlich doch natürliche Verhältnis der Geschlechter, das pwo_148.031
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/162>, abgerufen am 21.11.2024.