Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_153.001
Jmprovisationen, teils feste, allitterierende Wendungen der Umgangsprache, pwo_153.002
überhaupt Sprüche, die mit einer erzählenden Aussage oder pwo_153.003
einem plastischen Vergleich einsetzen, um durch Zuspitzung auf einen pwo_153.004
Wunsch lyrischen Accent zu erhalten, werden wir gewiß als Vorstufe pwo_153.005
einer keimenden lyrischen Disposition ansehen dürfen. Auch mit der pwo_153.006
Möglichkeit ist zu rechnen, daß manche Denkmäler deutscher Liebeslyrik pwo_153.007
verloren gegangen, die schon vor dem Kürenberger im Anschluß pwo_153.008
an deutsche Auffassung das Verhältnis der Geschlechter natürlicher pwo_153.009
nahmen. Aber für eine eigentlich blühende deutsche Volkslyrik fehlen pwo_153.010
in dieser Frühzeit selbst die Vorbedingungen.

pwo_153.011

Mag eine konstruierende Aesthetik im einen oder audern Sinne pwo_153.012
zuversichtlicher Stellung nehmen: die auf Thatsachen aufbauende Poetik pwo_153.013
wird sich mit Feststellung und Auswertung der Denkmäler und Zeugnisse pwo_153.014
auch für die älteste Lyrik begnügen.

pwo_153.015
§ 67. pwo_153.016
Die deutsche Ritterlyrik.
pwo_153.017

Was wir für die Keimelemente der deutschen Lyrik feststellen pwo_153.018
konnten, war ein konkreter Kern in Zuspitzung auf eine Wunsch- oder pwo_153.019
sonstige Anrufsform. Recht im Gegensatz zum Epos, aber nicht ganz pwo_153.020
so weit entfernt von den ersten Anfängen des Götter- und Heldensanges, pwo_153.021
blieb der Umfang gering. Noch beim Ritter von Kürenberg pwo_153.022
läßt sich die Vorherrschaft der Einzelstrophe erkennen, doch strebt sein pwo_153.023
Metrum bereits nach gesetzmäßiger Abgrenzung der vollen und pwo_153.024
stumpfen Verse und ebenso gesetzmäßiger Wiederkehr bei gelegentlicher pwo_153.025
Aneinanderreihung mehrerer Strophen.

pwo_153.026

Auf ältere Quellen als die ausgebildete Kürenberg-Strophe weist pwo_153.027
der Leich zurück, eine primitivere Form der Strophenbindung durch pwo_153.028
Zusammenrücken ungleichartiger Strophen. Der Leich ist es vornehmlich, pwo_153.029
der uns noch heute erkennen läßt, wie die deutsche Lyrik schon pwo_153.030
vor den provenzalischen Anregungen eine Vorbereitung in lateinisch pwo_153.031
abgefaßten Gesängen gefunden hat. Und zwar ist wiederum der religiöse pwo_153.032
Ursprung, daneben jedoch bereits die Anlehnung an weltliche pwo_153.033
Gebräuche unverkennbar. Aus den Sequenzen, lateinischen Kirchengesängen, pwo_153.034
herausgebildet, aber neben Musik von Tänzen begleitet,

pwo_153.001
Jmprovisationen, teils feste, allitterierende Wendungen der Umgangsprache, pwo_153.002
überhaupt Sprüche, die mit einer erzählenden Aussage oder pwo_153.003
einem plastischen Vergleich einsetzen, um durch Zuspitzung auf einen pwo_153.004
Wunsch lyrischen Accent zu erhalten, werden wir gewiß als Vorstufe pwo_153.005
einer keimenden lyrischen Disposition ansehen dürfen. Auch mit der pwo_153.006
Möglichkeit ist zu rechnen, daß manche Denkmäler deutscher Liebeslyrik pwo_153.007
verloren gegangen, die schon vor dem Kürenberger im Anschluß pwo_153.008
an deutsche Auffassung das Verhältnis der Geschlechter natürlicher pwo_153.009
nahmen. Aber für eine eigentlich blühende deutsche Volkslyrik fehlen pwo_153.010
in dieser Frühzeit selbst die Vorbedingungen.

pwo_153.011

  Mag eine konstruierende Aesthetik im einen oder audern Sinne pwo_153.012
zuversichtlicher Stellung nehmen: die auf Thatsachen aufbauende Poetik pwo_153.013
wird sich mit Feststellung und Auswertung der Denkmäler und Zeugnisse pwo_153.014
auch für die älteste Lyrik begnügen.

pwo_153.015
§ 67. pwo_153.016
Die deutsche Ritterlyrik.
pwo_153.017

  Was wir für die Keimelemente der deutschen Lyrik feststellen pwo_153.018
konnten, war ein konkreter Kern in Zuspitzung auf eine Wunsch- oder pwo_153.019
sonstige Anrufsform. Recht im Gegensatz zum Epos, aber nicht ganz pwo_153.020
so weit entfernt von den ersten Anfängen des Götter- und Heldensanges, pwo_153.021
blieb der Umfang gering. Noch beim Ritter von Kürenberg pwo_153.022
läßt sich die Vorherrschaft der Einzelstrophe erkennen, doch strebt sein pwo_153.023
Metrum bereits nach gesetzmäßiger Abgrenzung der vollen und pwo_153.024
stumpfen Verse und ebenso gesetzmäßiger Wiederkehr bei gelegentlicher pwo_153.025
Aneinanderreihung mehrerer Strophen.

pwo_153.026

  Auf ältere Quellen als die ausgebildete Kürenberg-Strophe weist pwo_153.027
der Leich zurück, eine primitivere Form der Strophenbindung durch pwo_153.028
Zusammenrücken ungleichartiger Strophen. Der Leich ist es vornehmlich, pwo_153.029
der uns noch heute erkennen läßt, wie die deutsche Lyrik schon pwo_153.030
vor den provenzalischen Anregungen eine Vorbereitung in lateinisch pwo_153.031
abgefaßten Gesängen gefunden hat. Und zwar ist wiederum der religiöse pwo_153.032
Ursprung, daneben jedoch bereits die Anlehnung an weltliche pwo_153.033
Gebräuche unverkennbar. Aus den Sequenzen, lateinischen Kirchengesängen, pwo_153.034
herausgebildet, aber neben Musik von Tänzen begleitet,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0167" n="153"/><lb n="pwo_153.001"/>
Jmprovisationen, teils feste, allitterierende Wendungen der Umgangsprache, <lb n="pwo_153.002"/>
überhaupt Sprüche, die mit einer erzählenden Aussage oder <lb n="pwo_153.003"/>
einem plastischen Vergleich einsetzen, um durch Zuspitzung auf einen <lb n="pwo_153.004"/>
Wunsch lyrischen Accent zu erhalten, werden wir gewiß als Vorstufe <lb n="pwo_153.005"/>
einer keimenden lyrischen Disposition ansehen dürfen. Auch mit der <lb n="pwo_153.006"/>
Möglichkeit ist zu rechnen, daß manche Denkmäler deutscher Liebeslyrik <lb n="pwo_153.007"/>
verloren gegangen, die schon vor dem Kürenberger im Anschluß <lb n="pwo_153.008"/>
an deutsche Auffassung das Verhältnis der Geschlechter natürlicher <lb n="pwo_153.009"/>
nahmen. Aber für eine eigentlich blühende deutsche Volkslyrik fehlen <lb n="pwo_153.010"/>
in dieser Frühzeit selbst die Vorbedingungen.</p>
            <lb n="pwo_153.011"/>
            <p>  Mag eine konstruierende Aesthetik im einen oder audern Sinne <lb n="pwo_153.012"/>
zuversichtlicher Stellung nehmen: die auf Thatsachen aufbauende Poetik <lb n="pwo_153.013"/>
wird sich mit Feststellung und Auswertung der Denkmäler und Zeugnisse <lb n="pwo_153.014"/>
auch für die älteste Lyrik begnügen.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pwo_153.015"/>
            <head> <hi rendition="#c">§ 67. <lb n="pwo_153.016"/>
Die deutsche Ritterlyrik.</hi> </head>
            <lb n="pwo_153.017"/>
            <p>  Was wir für die Keimelemente der deutschen Lyrik feststellen <lb n="pwo_153.018"/>
konnten, war ein konkreter Kern in Zuspitzung auf eine Wunsch- oder <lb n="pwo_153.019"/>
sonstige Anrufsform. Recht im Gegensatz zum Epos, aber nicht ganz <lb n="pwo_153.020"/>
so weit entfernt von den ersten Anfängen des Götter- und Heldensanges, <lb n="pwo_153.021"/>
blieb der Umfang gering. Noch beim Ritter von Kürenberg <lb n="pwo_153.022"/>
läßt sich die Vorherrschaft der Einzelstrophe erkennen, doch strebt sein <lb n="pwo_153.023"/>
Metrum bereits nach gesetzmäßiger Abgrenzung der vollen und <lb n="pwo_153.024"/>
stumpfen Verse und ebenso gesetzmäßiger Wiederkehr bei gelegentlicher <lb n="pwo_153.025"/>
Aneinanderreihung mehrerer Strophen.</p>
            <lb n="pwo_153.026"/>
            <p>  Auf ältere Quellen als die ausgebildete Kürenberg-Strophe weist <lb n="pwo_153.027"/>
der <hi rendition="#g">Leich</hi> zurück, eine primitivere Form der Strophenbindung durch <lb n="pwo_153.028"/>
Zusammenrücken ungleichartiger Strophen. Der Leich ist es vornehmlich, <lb n="pwo_153.029"/>
der uns noch heute erkennen läßt, wie die deutsche Lyrik schon <lb n="pwo_153.030"/>
vor den provenzalischen Anregungen eine Vorbereitung in lateinisch <lb n="pwo_153.031"/>
abgefaßten Gesängen gefunden hat. Und zwar ist wiederum der religiöse <lb n="pwo_153.032"/>
Ursprung, daneben jedoch bereits die Anlehnung an weltliche <lb n="pwo_153.033"/>
Gebräuche unverkennbar. Aus den Sequenzen, lateinischen Kirchengesängen, <lb n="pwo_153.034"/>
herausgebildet, aber neben Musik von Tänzen begleitet,
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[153/0167] pwo_153.001 Jmprovisationen, teils feste, allitterierende Wendungen der Umgangsprache, pwo_153.002 überhaupt Sprüche, die mit einer erzählenden Aussage oder pwo_153.003 einem plastischen Vergleich einsetzen, um durch Zuspitzung auf einen pwo_153.004 Wunsch lyrischen Accent zu erhalten, werden wir gewiß als Vorstufe pwo_153.005 einer keimenden lyrischen Disposition ansehen dürfen. Auch mit der pwo_153.006 Möglichkeit ist zu rechnen, daß manche Denkmäler deutscher Liebeslyrik pwo_153.007 verloren gegangen, die schon vor dem Kürenberger im Anschluß pwo_153.008 an deutsche Auffassung das Verhältnis der Geschlechter natürlicher pwo_153.009 nahmen. Aber für eine eigentlich blühende deutsche Volkslyrik fehlen pwo_153.010 in dieser Frühzeit selbst die Vorbedingungen. pwo_153.011   Mag eine konstruierende Aesthetik im einen oder audern Sinne pwo_153.012 zuversichtlicher Stellung nehmen: die auf Thatsachen aufbauende Poetik pwo_153.013 wird sich mit Feststellung und Auswertung der Denkmäler und Zeugnisse pwo_153.014 auch für die älteste Lyrik begnügen. pwo_153.015 § 67. pwo_153.016 Die deutsche Ritterlyrik. pwo_153.017   Was wir für die Keimelemente der deutschen Lyrik feststellen pwo_153.018 konnten, war ein konkreter Kern in Zuspitzung auf eine Wunsch- oder pwo_153.019 sonstige Anrufsform. Recht im Gegensatz zum Epos, aber nicht ganz pwo_153.020 so weit entfernt von den ersten Anfängen des Götter- und Heldensanges, pwo_153.021 blieb der Umfang gering. Noch beim Ritter von Kürenberg pwo_153.022 läßt sich die Vorherrschaft der Einzelstrophe erkennen, doch strebt sein pwo_153.023 Metrum bereits nach gesetzmäßiger Abgrenzung der vollen und pwo_153.024 stumpfen Verse und ebenso gesetzmäßiger Wiederkehr bei gelegentlicher pwo_153.025 Aneinanderreihung mehrerer Strophen. pwo_153.026   Auf ältere Quellen als die ausgebildete Kürenberg-Strophe weist pwo_153.027 der Leich zurück, eine primitivere Form der Strophenbindung durch pwo_153.028 Zusammenrücken ungleichartiger Strophen. Der Leich ist es vornehmlich, pwo_153.029 der uns noch heute erkennen läßt, wie die deutsche Lyrik schon pwo_153.030 vor den provenzalischen Anregungen eine Vorbereitung in lateinisch pwo_153.031 abgefaßten Gesängen gefunden hat. Und zwar ist wiederum der religiöse pwo_153.032 Ursprung, daneben jedoch bereits die Anlehnung an weltliche pwo_153.033 Gebräuche unverkennbar. Aus den Sequenzen, lateinischen Kirchengesängen, pwo_153.034 herausgebildet, aber neben Musik von Tänzen begleitet,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/167
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/167>, abgerufen am 21.11.2024.