Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_172.001
klingt danach aus ganz andern Voraussetzungen als die Jägerlieder pwo_172.002
der volkstümlichen Standeslyrik.

pwo_172.003

Auf die individuelle Sonderung bleibt die psychologische Vertiefung pwo_172.004
nicht beschränkt. Die Vergeistigung greift in Goethes Liedern pwo_172.005
bis zu den Abgrundtiefen der Menschenbrust: Schuld und Qual und pwo_172.006
dämonische Wildheit weiß er ebenso zu ergründen wie zarteste Reinheit pwo_172.007
und Seelenmilde. Da bei ihm, der nach Herders Lehre entschlossen pwo_172.008
auf den melodischen und dramatischen Charakter des Volksliedes pwo_172.009
zurückgeht, die Plastik und Erzählung bis zu gestaltenreicher pwo_172.010
Handlung vorschreitet, geschieht wiederum und in erhöhtem Maße eine pwo_172.011
klassische Beseelung der Erscheinungen: es ist nicht nur die äußere pwo_172.012
Gestalt, ebenso wenig nur die Seele, in die wir Einblick gewinnen: pwo_172.013
es ist die beseelte Gestalt. Wie wenig erfahren wir von der geistigen pwo_172.014
Beschaffenheit, von dem Seelenleben der Geliebten eines Walther pwo_172.015
von der Vogelweide! Das Lied "Under der linden" läßt sie pwo_172.016
als frisches junges Geschöpf erscheinen, das, von des Liebsten Begrüßung pwo_172.017
beseligt, unter hellem Lachen ihm in die Arme sinkt und pwo_172.018
dennoch sich schämen würde, hätte ihre Liebe andere Zeugen gefunden pwo_172.019
als die Nachtigall, die ihnen sang. Damit vergleiche man das seelenvolle pwo_172.020
Bild, das uns "Jägers Abendlied" vermittelte, wie andere Gedichte pwo_172.021
an Lilli die verwöhnte Gesellschaftsdame hervortreten lassen. pwo_172.022
Aehnlich bereits die Lieder auf Friederike.

pwo_172.023
"Erwache, Friederike, pwo_172.024
Vertreib die Nacht, pwo_172.025
Die einer deiner Blicke pwo_172.026
Zum Tage macht!"
pwo_172.027

Oder:

pwo_172.028
"Ein rosenfarbnes Frühlingswetter pwo_172.029
Umgab das liebliche Gesicht, pwo_172.030
Und Zärtlichkeit für mich ..."
pwo_172.031

Vor allem erschließt der Dichter immer und immer sein eigenes pwo_172.032
Seelenleben. Auch wo die äußere Gestalt entschwunden und die Dichtung pwo_172.033
ganz auf Darstellung des Seelenlebens gestellt scheint, ist oft pwo_172.034
mit Vollendung eine Scenerie entfaltet, in die wir die Gestalt hineinzudenken pwo_172.035
haben, weil aus jener Umgebung die Stimmung herauswächst.

pwo_172.001
klingt danach aus ganz andern Voraussetzungen als die Jägerlieder pwo_172.002
der volkstümlichen Standeslyrik.

pwo_172.003

  Auf die individuelle Sonderung bleibt die psychologische Vertiefung pwo_172.004
nicht beschränkt. Die Vergeistigung greift in Goethes Liedern pwo_172.005
bis zu den Abgrundtiefen der Menschenbrust: Schuld und Qual und pwo_172.006
dämonische Wildheit weiß er ebenso zu ergründen wie zarteste Reinheit pwo_172.007
und Seelenmilde. Da bei ihm, der nach Herders Lehre entschlossen pwo_172.008
auf den melodischen und dramatischen Charakter des Volksliedes pwo_172.009
zurückgeht, die Plastik und Erzählung bis zu gestaltenreicher pwo_172.010
Handlung vorschreitet, geschieht wiederum und in erhöhtem Maße eine pwo_172.011
klassische Beseelung der Erscheinungen: es ist nicht nur die äußere pwo_172.012
Gestalt, ebenso wenig nur die Seele, in die wir Einblick gewinnen: pwo_172.013
es ist die beseelte Gestalt. Wie wenig erfahren wir von der geistigen pwo_172.014
Beschaffenheit, von dem Seelenleben der Geliebten eines Walther pwo_172.015
von der Vogelweide! Das Lied „Under der linden“ läßt sie pwo_172.016
als frisches junges Geschöpf erscheinen, das, von des Liebsten Begrüßung pwo_172.017
beseligt, unter hellem Lachen ihm in die Arme sinkt und pwo_172.018
dennoch sich schämen würde, hätte ihre Liebe andere Zeugen gefunden pwo_172.019
als die Nachtigall, die ihnen sang. Damit vergleiche man das seelenvolle pwo_172.020
Bild, das uns „Jägers Abendlied“ vermittelte, wie andere Gedichte pwo_172.021
an Lilli die verwöhnte Gesellschaftsdame hervortreten lassen. pwo_172.022
Aehnlich bereits die Lieder auf Friederike.

pwo_172.023
„Erwache, Friederike, pwo_172.024
Vertreib die Nacht, pwo_172.025
Die einer deiner Blicke pwo_172.026
Zum Tage macht!“
pwo_172.027

Oder:

pwo_172.028
„Ein rosenfarbnes Frühlingswetter pwo_172.029
Umgab das liebliche Gesicht, pwo_172.030
Und Zärtlichkeit für mich ...“
pwo_172.031

Vor allem erschließt der Dichter immer und immer sein eigenes pwo_172.032
Seelenleben. Auch wo die äußere Gestalt entschwunden und die Dichtung pwo_172.033
ganz auf Darstellung des Seelenlebens gestellt scheint, ist oft pwo_172.034
mit Vollendung eine Scenerie entfaltet, in die wir die Gestalt hineinzudenken pwo_172.035
haben, weil aus jener Umgebung die Stimmung herauswächst.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0186" n="172"/><lb n="pwo_172.001"/>
klingt danach aus ganz andern Voraussetzungen als die Jägerlieder <lb n="pwo_172.002"/>
der volkstümlichen Standeslyrik.</p>
            <lb n="pwo_172.003"/>
            <p>  Auf die individuelle Sonderung bleibt die psychologische Vertiefung <lb n="pwo_172.004"/>
nicht beschränkt. Die Vergeistigung greift in Goethes Liedern <lb n="pwo_172.005"/>
bis zu den Abgrundtiefen der Menschenbrust: Schuld und Qual und <lb n="pwo_172.006"/>
dämonische Wildheit weiß er ebenso zu ergründen wie zarteste Reinheit <lb n="pwo_172.007"/>
und Seelenmilde. Da bei ihm, der nach Herders Lehre entschlossen <lb n="pwo_172.008"/>
auf den melodischen und dramatischen Charakter des <hi rendition="#g">Volksliedes</hi> <lb n="pwo_172.009"/>
zurückgeht, die Plastik und Erzählung bis zu gestaltenreicher <lb n="pwo_172.010"/>
Handlung vorschreitet, geschieht wiederum und in erhöhtem Maße eine <lb n="pwo_172.011"/>
klassische Beseelung der Erscheinungen: es ist nicht nur die äußere <lb n="pwo_172.012"/>
Gestalt, ebenso wenig nur die Seele, in die wir Einblick gewinnen: <lb n="pwo_172.013"/>
es ist die <hi rendition="#g">beseelte Gestalt.</hi> Wie wenig erfahren wir von der geistigen <lb n="pwo_172.014"/>
Beschaffenheit, von dem Seelenleben der Geliebten eines Walther <lb n="pwo_172.015"/>
von der Vogelweide! Das Lied &#x201E;<hi rendition="#aq">Under der linden</hi>&#x201C; läßt sie <lb n="pwo_172.016"/>
als frisches junges Geschöpf erscheinen, das, von des Liebsten Begrüßung <lb n="pwo_172.017"/>
beseligt, unter hellem Lachen ihm in die Arme sinkt und <lb n="pwo_172.018"/>
dennoch sich schämen würde, hätte ihre Liebe andere Zeugen gefunden <lb n="pwo_172.019"/>
als die Nachtigall, die ihnen sang. Damit vergleiche man das seelenvolle <lb n="pwo_172.020"/>
Bild, das uns &#x201E;Jägers Abendlied&#x201C; vermittelte, wie andere Gedichte <lb n="pwo_172.021"/>
an Lilli die verwöhnte Gesellschaftsdame hervortreten lassen. <lb n="pwo_172.022"/>
Aehnlich bereits die Lieder auf Friederike.</p>
            <lb n="pwo_172.023"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Erwache, Friederike,</l>
              <lb n="pwo_172.024"/>
              <l>Vertreib die Nacht,</l>
              <lb n="pwo_172.025"/>
              <l>Die einer deiner Blicke</l>
              <lb n="pwo_172.026"/>
              <l>Zum Tage macht!&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_172.027"/>
            <p>Oder:</p>
            <lb n="pwo_172.028"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Ein rosenfarbnes Frühlingswetter</l>
              <lb n="pwo_172.029"/>
              <l>Umgab das liebliche Gesicht,</l>
              <lb n="pwo_172.030"/>
              <l>Und Zärtlichkeit für mich ...&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_172.031"/>
            <p>Vor allem erschließt der Dichter immer und immer sein eigenes <lb n="pwo_172.032"/>
Seelenleben. Auch wo die äußere Gestalt entschwunden und die Dichtung <lb n="pwo_172.033"/>
ganz auf Darstellung des Seelenlebens gestellt scheint, ist oft <lb n="pwo_172.034"/>
mit Vollendung eine Scenerie entfaltet, in die wir die Gestalt hineinzudenken <lb n="pwo_172.035"/>
haben, weil aus jener Umgebung die Stimmung herauswächst.</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[172/0186] pwo_172.001 klingt danach aus ganz andern Voraussetzungen als die Jägerlieder pwo_172.002 der volkstümlichen Standeslyrik. pwo_172.003   Auf die individuelle Sonderung bleibt die psychologische Vertiefung pwo_172.004 nicht beschränkt. Die Vergeistigung greift in Goethes Liedern pwo_172.005 bis zu den Abgrundtiefen der Menschenbrust: Schuld und Qual und pwo_172.006 dämonische Wildheit weiß er ebenso zu ergründen wie zarteste Reinheit pwo_172.007 und Seelenmilde. Da bei ihm, der nach Herders Lehre entschlossen pwo_172.008 auf den melodischen und dramatischen Charakter des Volksliedes pwo_172.009 zurückgeht, die Plastik und Erzählung bis zu gestaltenreicher pwo_172.010 Handlung vorschreitet, geschieht wiederum und in erhöhtem Maße eine pwo_172.011 klassische Beseelung der Erscheinungen: es ist nicht nur die äußere pwo_172.012 Gestalt, ebenso wenig nur die Seele, in die wir Einblick gewinnen: pwo_172.013 es ist die beseelte Gestalt. Wie wenig erfahren wir von der geistigen pwo_172.014 Beschaffenheit, von dem Seelenleben der Geliebten eines Walther pwo_172.015 von der Vogelweide! Das Lied „Under der linden“ läßt sie pwo_172.016 als frisches junges Geschöpf erscheinen, das, von des Liebsten Begrüßung pwo_172.017 beseligt, unter hellem Lachen ihm in die Arme sinkt und pwo_172.018 dennoch sich schämen würde, hätte ihre Liebe andere Zeugen gefunden pwo_172.019 als die Nachtigall, die ihnen sang. Damit vergleiche man das seelenvolle pwo_172.020 Bild, das uns „Jägers Abendlied“ vermittelte, wie andere Gedichte pwo_172.021 an Lilli die verwöhnte Gesellschaftsdame hervortreten lassen. pwo_172.022 Aehnlich bereits die Lieder auf Friederike. pwo_172.023 „Erwache, Friederike, pwo_172.024 Vertreib die Nacht, pwo_172.025 Die einer deiner Blicke pwo_172.026 Zum Tage macht!“ pwo_172.027 Oder: pwo_172.028 „Ein rosenfarbnes Frühlingswetter pwo_172.029 Umgab das liebliche Gesicht, pwo_172.030 Und Zärtlichkeit für mich ...“ pwo_172.031 Vor allem erschließt der Dichter immer und immer sein eigenes pwo_172.032 Seelenleben. Auch wo die äußere Gestalt entschwunden und die Dichtung pwo_172.033 ganz auf Darstellung des Seelenlebens gestellt scheint, ist oft pwo_172.034 mit Vollendung eine Scenerie entfaltet, in die wir die Gestalt hineinzudenken pwo_172.035 haben, weil aus jener Umgebung die Stimmung herauswächst.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/186
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/186>, abgerufen am 21.11.2024.