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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Lessing ist es, der die Herrschaft Shakespeares in Deutschland pwo_208.002
begründet. Englischen Stil übernimmt er schon in "Miß Sara pwo_208.003
Sampson". Auf den stammverwandten großen Dramatiker verweisen pwo_208.004
alsdann die Litteraturbriefe und die Hamburgische Dramaturgie als pwo_208.005
denjenigen, in dessen Zeichen die Befreiung vom romanischen Einfluß pwo_208.006
zu erfolgen habe. Lessings meisterliche "Emilia Galotti" trug ihm pwo_208.007
selbst von Ebert den begeisterten Zuruf ein: "O Shakespeare-Lessing!" pwo_208.008
Das Stück ist in der That nicht nur bedeutsam, weil es ein tragisches pwo_208.009
Zeitbild und trotz des fremden Kostüms ein Bild aus dem deutschen pwo_208.010
Leben entrollt. Jn der Geschichte des tragischen Stils tritt pwo_208.011
hervor, daß Lessing zwar aufs vorteilhafteste von der straffen Komposition pwo_208.012
des französischen Dramas gelernt hat, im übrigen aber Epoche pwo_208.013
macht, indem er der individuellen Charakterzeichnung Shakespeares pwo_208.014
nachstrebt. Der Prinz von Guastalla, der gewissenlose Verführer, ist pwo_208.015
kein steifer Repräsentant seiner Würde, doch auch kein Wüterich, kein pwo_208.016
Tyrann, auch kein bloßer verächtlicher Lüstling, sondern ein naturgetreuer, pwo_208.017
voller Mensch, ohne Uebertreibung oder Verzerrung gezeichnet: pwo_208.018
wohl verbrecherisch, aber aus Leichtsinn, wohl leichtsinnig, aber pwo_208.019
aus irregeleitetem Machtgefühl, dabei von künstlerischen Jnteressen, pwo_208.020
eine glänzende Erscheinung, bestrickend liebenswürdig - und so doppelt pwo_208.021
gefährlich. Aehnlich ist Marinelli nicht mehr der Theaterbösewicht pwo_208.022
mit teuflischer Lust an der Bosheit, vielmehr eine jener menschlichen pwo_208.023
Kreaturen, die gewissenlos eine Machtstellung am Hofe zu behaupten pwo_208.024
suchen, indem sie allen Lüsten und Launen des Fürsten pwo_208.025
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Kind seiner Muse, giebt Lessing eine durchaus individuelle, lebensvolle pwo_208.027
Gestaltung: fromm und gehorsam, "die Furchtsamste und Entschlossenste pwo_208.028
ihres Geschlechts", hat sie "so jugendliches, so warmes pwo_208.029
Blut als eine": eben erblüht, kindlich fröhlich und beweglich, ihre pwo_208.030
ganze Gestalt das einzige Studium der weiblichen Schönheit für einen pwo_208.031
Künstler, mit Vorliebe in fliegenden Gewanden, dem überernsten Liebhaber pwo_208.032
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Lebensfülle und Bestimmtheit charakteristischer Linien?

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Und dieses jugendfrische Haupt wird von den düstern Fittichen pwo_208.036
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/222>, abgerufen am 24.11.2024.