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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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entblätterte"! Dies Scheidewort läßt uns erraten, mit welcher Seelenstimmung pwo_209.002
Emilia in den Tod geht. "Dieses Leben ist alles, pwo_209.003
was die Lasterhaften haben
"; wenn der Vater aber ihr den pwo_209.004
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zweiten mal das Leben". Ruhig geht die "Furchtsamste und Entschlossenste pwo_209.006
ihres Geschlechts" in den Tod. "Aber was nennen Sie pwo_209.007
ruhig sein? Die Hände in den Schoß legen? Leiden, was man pwo_209.008
nicht sollte?
Dulden, was man nicht dürfte? ... Als ob wir, pwo_209.009
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mein Vater!" Hier beginnt in Aufnahme pwo_209.010
des Shakespeareschen Charakterdramas eine Wendung über den pwo_209.011
Stil des großen Britten hinaus: hier geht die tragische Heldin mit pwo_209.012
vollem Willen, mit Dankbarkeit und Freude in den Tod; hier bedeutet pwo_209.013
er nicht nur das natürliche Ende oder selbst das Ende der Qual, pwo_209.014
- hier bedeutet der physische Untergang die sittliche Größe. Das pwo_209.015
ist jedenfalls ein anderer tragischer Accent, eine andere Auffassung pwo_209.016
des letzten Leidens als Lear an der Leiche seiner Tochter Cordelia pwo_209.017
ausdrückt:

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"Ein Hund, ein Pferd, 'ne Maus soll Leben haben, pwo_209.019
Und du nicht einen Hauch?"
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oder wodurch Desdemona in ihrer Art uns zu rühren weiß:

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"Verstoße mich! O, töte mich nur nicht!" pwo_209.022
"Töte mich morgen, laß mich heut noch leben!" pwo_209.023
"Nur ein Stündchen!" pwo_209.024
"Nur, bis ich noch gebetet!"
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Physisch-realistischer ist zweifellos die tragische Auffassung Shakespeares: pwo_209.026
was wir soeben in Deutschland sich anheben sehen, ist zwar ebenfalls pwo_209.027
ein Charakterdrama, das aber über die rein physische Realität hinaus pwo_209.028
die Jdee durchführt, wie der individuelle Mensch zur Herrschaft über pwo_209.029
sein Schicksal gelangt, nicht indem er sein letztes Los abschüttelt - pwo_209.030
denn wer vermöchte die Pforten des Todes zu sprengen! - vielmehr pwo_209.031
indem er sich ihm mit freiem Willen unterzieht, ja es sich selbst pwo_209.032
wirft, sobald der Untergang sittlich höher führt als weiteres Leben. -

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Auf verschiedene Weise haben Goethe und Schiller diesen Höhenweg pwo_209.034
des deutschen Trauerspiels weiter ausgebaut.

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Wie tief aus Goethes Seele geflossen ist Faustens Sehnsucht:

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„Töte mich morgen, laß mich heut noch leben!“ pwo_209.023
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  Auf verschiedene Weise haben Goethe und Schiller diesen Höhenweg pwo_209.034
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/223>, abgerufen am 25.11.2024.