Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_017.001 Gewiß haben platte Naturalisten die Schönheitstheorie mißverstanden, pwo_017.004 Worum es sich nur handeln kann, ist eine derartige Beleuchtung pwo_017.010 Kommt damit aber das Wesen der Poesie zu vollem positiven pwo_017.014 "Hier sitz' ich, forme Menschen pwo_017.021 pwo_017.027Nach meinem Bilde, pwo_017.022 Ein Geschlecht, das mir gleich sei, pwo_017.023 Zu leiden, zu weinen, pwo_017.024 Zu genießen und zu freuen sich pwo_017.025 Und dein nicht zu achten, pwo_017.026 Wie ich!" Ein durch theoretische Erörterungen nicht befangenes Gemüt dürfte pwo_017.028 Mit Recht hat die moderne Kunst, auch wo sie nicht naturalistisch pwo_017.036 pwo_017.001 Gewiß haben platte Naturalisten die Schönheitstheorie mißverstanden, pwo_017.004 Worum es sich nur handeln kann, ist eine derartige Beleuchtung pwo_017.010 Kommt damit aber das Wesen der Poesie zu vollem positiven pwo_017.014 „Hier sitz' ich, forme Menschen pwo_017.021 pwo_017.027Nach meinem Bilde, pwo_017.022 Ein Geschlecht, das mir gleich sei, pwo_017.023 Zu leiden, zu weinen, pwo_017.024 Zu genießen und zu freuen sich pwo_017.025 Und dein nicht zu achten, pwo_017.026 Wie ich!“ Ein durch theoretische Erörterungen nicht befangenes Gemüt dürfte pwo_017.028 Mit Recht hat die moderne Kunst, auch wo sie nicht naturalistisch pwo_017.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0031" n="17"/><lb n="pwo_017.001"/> zum Ausgangspunkt ihrer gesamten Untersuchung die Definition der <lb n="pwo_017.002"/> Poesie als „schöner Darstellung des Schönen durch das Wort“.</p> <lb n="pwo_017.003"/> <p> Gewiß haben platte Naturalisten die Schönheitstheorie mißverstanden, <lb n="pwo_017.004"/> wenn sie ihr eine „schönfärberische“ Tendenz unterschieben <lb n="pwo_017.005"/> und meinen, daß durch eine solche Zweckbestimmung entweder der <lb n="pwo_017.006"/> Horizont auf das bloße Gebiet des unmittelbar Schönen eingeengt <lb n="pwo_017.007"/> oder aber jeder andere, nicht rein angenehme Gegenstand in der dichterischen <lb n="pwo_017.008"/> Darstellung nach der Seite der Beschönigung verfälscht würde.</p> <lb n="pwo_017.009"/> <p> Worum es sich nur handeln kann, ist eine derartige Beleuchtung <lb n="pwo_017.010"/> der behandelten Stoffe, daß ihre Darstellung einen möglichst anmutenden <lb n="pwo_017.011"/> Eindruck hervorruft, zum mindesten nicht grell unser Schönheitsgefühl <lb n="pwo_017.012"/> herausfordert.</p> <lb n="pwo_017.013"/> <p> Kommt damit aber das Wesen der Poesie zu vollem positiven <lb n="pwo_017.014"/> Ausdruck? Zielt Shakespeares „Richard <hi rendition="#aq">III</hi>.“ auf möglichst weitgehende <lb n="pwo_017.015"/> Schönheit? Hat der Dichter solch ein Drama in der Absicht <lb n="pwo_017.016"/> eines Schönheitskultus geschaffen? Oder wird auch nur das Wesen <lb n="pwo_017.017"/> einer gewiß schon dem Stoffe nach nicht unästhetischen Dichtung wie <lb n="pwo_017.018"/> des Goetheschen „Prometheus“ durch die Schönheitstheorie irgend getroffen, <lb n="pwo_017.019"/> geschweige erschöpft?</p> <lb n="pwo_017.020"/> <lg> <l>„Hier sitz' ich, forme Menschen</l> <lb n="pwo_017.021"/> <l>Nach meinem Bilde,</l> <lb n="pwo_017.022"/> <l>Ein Geschlecht, das mir gleich sei,</l> <lb n="pwo_017.023"/> <l>Zu leiden, zu weinen,</l> <lb n="pwo_017.024"/> <l>Zu genießen und zu freuen sich</l> <lb n="pwo_017.025"/> <l>Und dein nicht zu achten,</l> <lb n="pwo_017.026"/> <l>Wie ich!“</l> </lg> <lb n="pwo_017.027"/> <p>Ein durch theoretische Erörterungen nicht befangenes Gemüt dürfte <lb n="pwo_017.028"/> durch die Strophe kaum gerade seinen Schönheitssinn wachgerufen <lb n="pwo_017.029"/> finden; an ganz andern Seelenkräften wird es sich getroffen fühlen, <lb n="pwo_017.030"/> weit mächtiger durchdrungen sein! Denken wir schließlich noch an <lb n="pwo_017.031"/> Goethes „Götz von Berlichingen“ oder gar an Schillers „Räuber“. <lb n="pwo_017.032"/> Jst deren Wesen irgend durch „Schönheit“ bezeichnet? Also wären <lb n="pwo_017.033"/> es keine Dichtungen?! Aber wir schreiben von ihnen doch die Erneuerung, <lb n="pwo_017.034"/> die Verjüngung unserer Litteratur her.</p> <lb n="pwo_017.035"/> <p> Mit Recht hat die moderne Kunst, auch wo sie nicht naturalistisch <lb n="pwo_017.036"/> am Rohstoff haften bleibt, das Streben nach Schönheit als <lb n="pwo_017.037"/> oberstes Kunstgesetz zu eng befunden, in ihrem immer entschiedeneren </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [17/0031]
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zum Ausgangspunkt ihrer gesamten Untersuchung die Definition der pwo_017.002
Poesie als „schöner Darstellung des Schönen durch das Wort“.
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Gewiß haben platte Naturalisten die Schönheitstheorie mißverstanden, pwo_017.004
wenn sie ihr eine „schönfärberische“ Tendenz unterschieben pwo_017.005
und meinen, daß durch eine solche Zweckbestimmung entweder der pwo_017.006
Horizont auf das bloße Gebiet des unmittelbar Schönen eingeengt pwo_017.007
oder aber jeder andere, nicht rein angenehme Gegenstand in der dichterischen pwo_017.008
Darstellung nach der Seite der Beschönigung verfälscht würde.
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Worum es sich nur handeln kann, ist eine derartige Beleuchtung pwo_017.010
der behandelten Stoffe, daß ihre Darstellung einen möglichst anmutenden pwo_017.011
Eindruck hervorruft, zum mindesten nicht grell unser Schönheitsgefühl pwo_017.012
herausfordert.
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Kommt damit aber das Wesen der Poesie zu vollem positiven pwo_017.014
Ausdruck? Zielt Shakespeares „Richard III.“ auf möglichst weitgehende pwo_017.015
Schönheit? Hat der Dichter solch ein Drama in der Absicht pwo_017.016
eines Schönheitskultus geschaffen? Oder wird auch nur das Wesen pwo_017.017
einer gewiß schon dem Stoffe nach nicht unästhetischen Dichtung wie pwo_017.018
des Goetheschen „Prometheus“ durch die Schönheitstheorie irgend getroffen, pwo_017.019
geschweige erschöpft?
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„Hier sitz' ich, forme Menschen pwo_017.021
Nach meinem Bilde, pwo_017.022
Ein Geschlecht, das mir gleich sei, pwo_017.023
Zu leiden, zu weinen, pwo_017.024
Zu genießen und zu freuen sich pwo_017.025
Und dein nicht zu achten, pwo_017.026
Wie ich!“
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Ein durch theoretische Erörterungen nicht befangenes Gemüt dürfte pwo_017.028
durch die Strophe kaum gerade seinen Schönheitssinn wachgerufen pwo_017.029
finden; an ganz andern Seelenkräften wird es sich getroffen fühlen, pwo_017.030
weit mächtiger durchdrungen sein! Denken wir schließlich noch an pwo_017.031
Goethes „Götz von Berlichingen“ oder gar an Schillers „Räuber“. pwo_017.032
Jst deren Wesen irgend durch „Schönheit“ bezeichnet? Also wären pwo_017.033
es keine Dichtungen?! Aber wir schreiben von ihnen doch die Erneuerung, pwo_017.034
die Verjüngung unserer Litteratur her.
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Mit Recht hat die moderne Kunst, auch wo sie nicht naturalistisch pwo_017.036
am Rohstoff haften bleibt, das Streben nach Schönheit als pwo_017.037
oberstes Kunstgesetz zu eng befunden, in ihrem immer entschiedeneren
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