Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
pwo_016.001

Die Poesie stände auf sehr niedriger Stufe, wenn wir sie als pwo_016.002
bloße Nachahmung ansehen wollten, hervorgegangen aus dem angeborenen pwo_016.003
Nachahmungstrieb der Menschen und zielend auf das gleichfalls pwo_016.004
allgemeine Wohlgefallen an Erzeugnissen der Nachahmung - pwo_016.005
um des Aristoteles Ausdrucksweise beizubehalten. Gar, wie man mißverständlich pwo_016.006
herausgelesen, eine solche mechanische Thätigkeit als Wesen pwo_016.007
der Poesie hinzustellen, hieße dem Dichter eine rein äußerliche Kunstfertigkeit pwo_016.008
zuweisen. Mit Recht betont deshalb der große antike Kunstlehrer pwo_016.009
wiederholt idealisierende Elemente der Poesie.

pwo_016.010

Anders die neueren Verfechter der Nachahmungstheorie. Um so pwo_016.011
vollkommener erscheint ihnen die Kunst, je sklavischer sie die Natur pwo_016.012
wiedergiebt. Ganz wie Gottscheds Schüler Johann Elias Schlegel pwo_016.013
bezeichnen sie als Jnbegriff des ästhetischen Wohlgefallens ausdrücklich pwo_016.014
die Genugthuung an der wahrgenommenen Aehnlichkeit zwischen Vorbild pwo_016.015
und Abbild. Daß in Wirklichkeit die Seelenkräfte viel innerlicher pwo_016.016
von der Poesie ergriffen werden als in solcher Befriedigung pwo_016.017
über ein stimmendes geometrisches Verhältnis, kommt nach alledem in pwo_016.018
dieser Auffassung nicht zur Geltung.

pwo_016.019
§ 15. pwo_016.020
Die Schönheitstheorie in der Poetik.
pwo_016.021

Um den entscheidenden Zug herauszuheben, welcher die Gebilde pwo_016.022
der Dichtung von denen des Lebens trennt, verwies man auf die pwo_016.023
Schönheit als ausschlaggebende Eigenschaft der Kunst. Der Hinblick pwo_016.024
auf die Antike schien dieser Auffassung eine besondere Stütze zu bieten. pwo_016.025
Allerdings will schon Lessings "Laokoon" nur feststellen, "daß bei den pwo_016.026
Alten die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen pwo_016.027
sei". Dahingegen "oft vernachlässiget der Dichter die Schönheit pwo_016.028
gänzlich, versichert, daß wenn sein Held unsere Gewogenheit gewonnen, pwo_016.029
uns dessen edlere Eigenschaften so beschäftigen, daß wir an pwo_016.030
die körperliche Gestalt garnicht denken". Aber im übertragenen pwo_016.031
Sinne behielten seit Baumgartens Tagen bis in die Gegenwart besonders pwo_016.032
philosophische Kreise diese Definition dermaßen fest, daß sie pwo_016.033
die Aesthetik fortgesetzt geradezu als Wissenschaft vom Schönen bezeichnen. pwo_016.034
Selbst die vorgeschrittenste, an litteraturgeschichtlichem pwo_016.035
Material reichste Poetik, das Werk von Wilhelm Wackernagel, wählt

pwo_016.001

  Die Poesie stände auf sehr niedriger Stufe, wenn wir sie als pwo_016.002
bloße Nachahmung ansehen wollten, hervorgegangen aus dem angeborenen pwo_016.003
Nachahmungstrieb der Menschen und zielend auf das gleichfalls pwo_016.004
allgemeine Wohlgefallen an Erzeugnissen der Nachahmung – pwo_016.005
um des Aristoteles Ausdrucksweise beizubehalten. Gar, wie man mißverständlich pwo_016.006
herausgelesen, eine solche mechanische Thätigkeit als Wesen pwo_016.007
der Poesie hinzustellen, hieße dem Dichter eine rein äußerliche Kunstfertigkeit pwo_016.008
zuweisen. Mit Recht betont deshalb der große antike Kunstlehrer pwo_016.009
wiederholt idealisierende Elemente der Poesie.

pwo_016.010

  Anders die neueren Verfechter der Nachahmungstheorie. Um so pwo_016.011
vollkommener erscheint ihnen die Kunst, je sklavischer sie die Natur pwo_016.012
wiedergiebt. Ganz wie Gottscheds Schüler Johann Elias Schlegel pwo_016.013
bezeichnen sie als Jnbegriff des ästhetischen Wohlgefallens ausdrücklich pwo_016.014
die Genugthuung an der wahrgenommenen Aehnlichkeit zwischen Vorbild pwo_016.015
und Abbild. Daß in Wirklichkeit die Seelenkräfte viel innerlicher pwo_016.016
von der Poesie ergriffen werden als in solcher Befriedigung pwo_016.017
über ein stimmendes geometrisches Verhältnis, kommt nach alledem in pwo_016.018
dieser Auffassung nicht zur Geltung.

pwo_016.019
§ 15. pwo_016.020
Die Schönheitstheorie in der Poetik.
pwo_016.021

  Um den entscheidenden Zug herauszuheben, welcher die Gebilde pwo_016.022
der Dichtung von denen des Lebens trennt, verwies man auf die pwo_016.023
Schönheit als ausschlaggebende Eigenschaft der Kunst. Der Hinblick pwo_016.024
auf die Antike schien dieser Auffassung eine besondere Stütze zu bieten. pwo_016.025
Allerdings will schon Lessings „Laokoon“ nur feststellen, „daß bei den pwo_016.026
Alten die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen pwo_016.027
sei“. Dahingegen „oft vernachlässiget der Dichter die Schönheit pwo_016.028
gänzlich, versichert, daß wenn sein Held unsere Gewogenheit gewonnen, pwo_016.029
uns dessen edlere Eigenschaften so beschäftigen, daß wir an pwo_016.030
die körperliche Gestalt garnicht denken“. Aber im übertragenen pwo_016.031
Sinne behielten seit Baumgartens Tagen bis in die Gegenwart besonders pwo_016.032
philosophische Kreise diese Definition dermaßen fest, daß sie pwo_016.033
die Aesthetik fortgesetzt geradezu als Wissenschaft vom Schönen bezeichnen. pwo_016.034
Selbst die vorgeschrittenste, an litteraturgeschichtlichem pwo_016.035
Material reichste Poetik, das Werk von Wilhelm Wackernagel, wählt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0030" n="16"/>
            <lb n="pwo_016.001"/>
            <p>  Die Poesie stände auf sehr niedriger Stufe, wenn wir sie als <lb n="pwo_016.002"/>
bloße Nachahmung ansehen wollten, hervorgegangen aus dem angeborenen <lb n="pwo_016.003"/>
Nachahmungstrieb der Menschen und zielend auf das gleichfalls <lb n="pwo_016.004"/>
allgemeine Wohlgefallen an Erzeugnissen der Nachahmung &#x2013; <lb n="pwo_016.005"/>
um des Aristoteles Ausdrucksweise beizubehalten. Gar, wie man mißverständlich <lb n="pwo_016.006"/>
herausgelesen, eine solche mechanische Thätigkeit als Wesen <lb n="pwo_016.007"/>
der Poesie hinzustellen, hieße dem Dichter eine rein äußerliche Kunstfertigkeit <lb n="pwo_016.008"/>
zuweisen. Mit Recht betont deshalb der große antike Kunstlehrer <lb n="pwo_016.009"/>
wiederholt idealisierende Elemente der Poesie.</p>
            <lb n="pwo_016.010"/>
            <p>  Anders die neueren Verfechter der Nachahmungstheorie. Um so <lb n="pwo_016.011"/>
vollkommener erscheint ihnen die Kunst, je sklavischer sie die Natur <lb n="pwo_016.012"/>
wiedergiebt. Ganz wie Gottscheds Schüler Johann Elias Schlegel <lb n="pwo_016.013"/>
bezeichnen sie als Jnbegriff des ästhetischen Wohlgefallens ausdrücklich <lb n="pwo_016.014"/>
die Genugthuung an der wahrgenommenen Aehnlichkeit zwischen Vorbild <lb n="pwo_016.015"/>
und Abbild. Daß in Wirklichkeit die Seelenkräfte viel innerlicher <lb n="pwo_016.016"/>
von der Poesie ergriffen werden als in solcher Befriedigung <lb n="pwo_016.017"/>
über ein stimmendes geometrisches Verhältnis, kommt nach alledem in <lb n="pwo_016.018"/>
dieser Auffassung nicht zur Geltung.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pwo_016.019"/>
            <head> <hi rendition="#c">§ 15. <lb n="pwo_016.020"/>
Die Schönheitstheorie in der Poetik.</hi> </head>
            <lb n="pwo_016.021"/>
            <p>  Um den entscheidenden Zug herauszuheben, welcher die Gebilde <lb n="pwo_016.022"/>
der Dichtung von denen des Lebens trennt, verwies man auf die <lb n="pwo_016.023"/>
Schönheit als ausschlaggebende Eigenschaft der Kunst. Der Hinblick <lb n="pwo_016.024"/>
auf die Antike schien dieser Auffassung eine besondere Stütze zu bieten. <lb n="pwo_016.025"/>
Allerdings will schon Lessings &#x201E;Laokoon&#x201C; nur feststellen, &#x201E;daß bei den <lb n="pwo_016.026"/>
Alten die Schönheit das höchste Gesetz der <hi rendition="#g">bildenden</hi> Künste gewesen <lb n="pwo_016.027"/>
sei&#x201C;. Dahingegen &#x201E;oft vernachlässiget der <hi rendition="#g">Dichter</hi> die Schönheit <lb n="pwo_016.028"/>
gänzlich, versichert, daß wenn sein Held unsere Gewogenheit gewonnen, <lb n="pwo_016.029"/>
uns dessen edlere Eigenschaften so beschäftigen, daß wir an <lb n="pwo_016.030"/>
die körperliche Gestalt garnicht denken&#x201C;. Aber im übertragenen <lb n="pwo_016.031"/>
Sinne behielten seit Baumgartens Tagen bis in die Gegenwart besonders <lb n="pwo_016.032"/>
philosophische Kreise diese Definition dermaßen fest, daß sie <lb n="pwo_016.033"/>
die Aesthetik fortgesetzt geradezu als Wissenschaft vom Schönen bezeichnen. <lb n="pwo_016.034"/>
Selbst die vorgeschrittenste, an litteraturgeschichtlichem <lb n="pwo_016.035"/>
Material reichste Poetik, das Werk von Wilhelm Wackernagel, wählt
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0030] pwo_016.001   Die Poesie stände auf sehr niedriger Stufe, wenn wir sie als pwo_016.002 bloße Nachahmung ansehen wollten, hervorgegangen aus dem angeborenen pwo_016.003 Nachahmungstrieb der Menschen und zielend auf das gleichfalls pwo_016.004 allgemeine Wohlgefallen an Erzeugnissen der Nachahmung – pwo_016.005 um des Aristoteles Ausdrucksweise beizubehalten. Gar, wie man mißverständlich pwo_016.006 herausgelesen, eine solche mechanische Thätigkeit als Wesen pwo_016.007 der Poesie hinzustellen, hieße dem Dichter eine rein äußerliche Kunstfertigkeit pwo_016.008 zuweisen. Mit Recht betont deshalb der große antike Kunstlehrer pwo_016.009 wiederholt idealisierende Elemente der Poesie. pwo_016.010   Anders die neueren Verfechter der Nachahmungstheorie. Um so pwo_016.011 vollkommener erscheint ihnen die Kunst, je sklavischer sie die Natur pwo_016.012 wiedergiebt. Ganz wie Gottscheds Schüler Johann Elias Schlegel pwo_016.013 bezeichnen sie als Jnbegriff des ästhetischen Wohlgefallens ausdrücklich pwo_016.014 die Genugthuung an der wahrgenommenen Aehnlichkeit zwischen Vorbild pwo_016.015 und Abbild. Daß in Wirklichkeit die Seelenkräfte viel innerlicher pwo_016.016 von der Poesie ergriffen werden als in solcher Befriedigung pwo_016.017 über ein stimmendes geometrisches Verhältnis, kommt nach alledem in pwo_016.018 dieser Auffassung nicht zur Geltung. pwo_016.019 § 15. pwo_016.020 Die Schönheitstheorie in der Poetik. pwo_016.021   Um den entscheidenden Zug herauszuheben, welcher die Gebilde pwo_016.022 der Dichtung von denen des Lebens trennt, verwies man auf die pwo_016.023 Schönheit als ausschlaggebende Eigenschaft der Kunst. Der Hinblick pwo_016.024 auf die Antike schien dieser Auffassung eine besondere Stütze zu bieten. pwo_016.025 Allerdings will schon Lessings „Laokoon“ nur feststellen, „daß bei den pwo_016.026 Alten die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen pwo_016.027 sei“. Dahingegen „oft vernachlässiget der Dichter die Schönheit pwo_016.028 gänzlich, versichert, daß wenn sein Held unsere Gewogenheit gewonnen, pwo_016.029 uns dessen edlere Eigenschaften so beschäftigen, daß wir an pwo_016.030 die körperliche Gestalt garnicht denken“. Aber im übertragenen pwo_016.031 Sinne behielten seit Baumgartens Tagen bis in die Gegenwart besonders pwo_016.032 philosophische Kreise diese Definition dermaßen fest, daß sie pwo_016.033 die Aesthetik fortgesetzt geradezu als Wissenschaft vom Schönen bezeichnen. pwo_016.034 Selbst die vorgeschrittenste, an litteraturgeschichtlichem pwo_016.035 Material reichste Poetik, das Werk von Wilhelm Wackernagel, wählt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/30
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/30>, abgerufen am 21.11.2024.