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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Wie recht eigentlich durch solch ein Sehnen nach Harmonie mit pwo_051.002
der Außenwelt der Stoff poetische Beleuchtung erfährt, zeigt sehr pwo_051.003
deutlich ein Gedicht Cheniers: "Die junge Gefangene". Für die pwo_051.004
Guillotine bestimmt, ruft sie in heißem Lebensdrang: "Jch will noch pwo_051.005
nicht sterben". Das wäre nun an sich durchaus noch kein poetischer pwo_051.006
Ausruf; aber sie leitet ihn folgendermaßen ein:

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"Die wachsende Aehre reift, von der Sense verschont; - pwo_051.008
ohne Furcht vor der Kelter trinkt die Rebe jeden Lenz die pwo_051.009
linden Gaben der Morgenröte; und ich, wie sie schön, und pwo_051.010
jung wie sie, was auch die Gegenwart an Schmerz und pwo_051.011
Unruh' bringt, ich will noch nicht sterben."

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Erst mit dieser Begründung hat der an sich willkürliche Wunsch, pwo_051.013
wenn nicht für unsern Verstand, doch für unser Gefühl Berechtigung pwo_051.014
gewonnen.

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Wie sonach die Poesie Himmel und Erde, die ganze Schöpfung pwo_051.016
beschwört, um ihren Gestalten höheren Glanz, künstlerische Beleuchtung pwo_051.017
zu verleihen, zeigt mit gewohnter Meisterschaft auch Byron, so pwo_051.018
in der "Braut von Abydos":

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"Die Barke teilend, woll' ihr Segen leih'n, pwo_051.020
Und meiner Arche Friedenstaube sein! pwo_051.021
Ach! da der Welt voll Kampf dies Glück entzogen, pwo_051.022
Sei für des Lebens Sturm der Regenbogen, pwo_051.023
Der Abendstrahl, der durch die Wolken bricht pwo_051.024
Und eines schönern Morgens Glanz verspricht!"
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Andauernd sehen wir menschliches Wesen in außermenschliche pwo_051.026
Natur-Sinnbilder gekleidet. Eine Art Physiomorphismus hat pwo_051.027
statt: durch physische Beziehungen von charakteristischer Eindrucksfähigkeit pwo_051.028
gewinnt der Stoff poetische Form.

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§ 31. pwo_051.030
Allegorie und Symbol.
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Wir sahen nicht nur den menschlichen Körper, schließlich bereits pwo_051.032
den menschlichen Geist in Natursinnbilder gekleidet, in physiomorphische pwo_051.033
Beziehung gerückt. Wie die Erschließung der Natur auf das pwo_051.034
theistische und heroische Zeitalter der Poesie folgt, finden wir nun

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  Wie recht eigentlich durch solch ein Sehnen nach Harmonie mit pwo_051.002
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deutlich ein Gedicht Chéniers: „Die junge Gefangene“. Für die pwo_051.004
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nicht sterben“. Das wäre nun an sich durchaus noch kein poetischer pwo_051.006
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Erst mit dieser Begründung hat der an sich willkürliche Wunsch, pwo_051.013
wenn nicht für unsern Verstand, doch für unser Gefühl Berechtigung pwo_051.014
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/65>, abgerufen am 26.11.2024.