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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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pwo_056.001
§ 34. pwo_056.002
Einheit von Ursache und Wirkung in der Poesie.
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Jst das Wesen der Poesie Ausdruck gehobener Gefühle, so pwo_056.004
bilden gehobene Gefühle des Dichters die Voraussetzung, die Ursache pwo_056.005
jedes poetischen Werkes.

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Ferner: ist die Dichtung Ausdruck gehobener Gefühle, so besteht pwo_056.007
ihre Wirkung eben darin, daß sie diese gehobenen Gefühle überallhin, pwo_056.008
wohin sie wirkt, eindrückt. Hiernach erwirkt sie eine Gefühlserhebung pwo_056.009
im Publikum: das ist der eigentliche Sinn ihrer veredelnden pwo_056.010
Wirkung, die in scholastischer Auffassung als moralisierend erschien.

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Damit ist der einheitliche Zusammenhang von Ursache, Wesen pwo_056.012
und Wirkung der Poesie festgestellt und die Dichtung als Mittlerin pwo_056.013
zwischen der Dichterseele und der Seele der Menschheit erkannt. Dieser pwo_056.014
Beruf erscheint würdiger als er der Poesie ehedem im Vergnügen pwo_056.015
an Nachahmungskunststücken oder in der Bereicherung an guten Lehren pwo_056.016
zugesprochen wurde.

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Der Dualismus überdies, welcher zwischen Ursache und Wirkung pwo_056.018
der Poesie, wie in der Beziehung zwischen Dichter und Publikum pwo_056.019
bestand, ist nunmehr überwunden. Hatte man die Nachahmung als pwo_056.020
Ursache der Dichtkunst hingestellt, so war man noch immer in Zweifel, pwo_056.021
wie die Wirkung zu erklären sei, bis man bald das Vergnügen, bald pwo_056.022
die Belehrung als äußerlichen Notbehelf heranzog. Faßte man andererseits pwo_056.023
zunächst nur - um von dem so äußerlichen Belehrungsprinzip pwo_056.024
ganz zu geschweigen - das Vergnügen als Wirkung ins Auge, so pwo_056.025
blieb noch immer unentschieden, worin dieses Vergnügen bestand: in pwo_056.026
der Freude an der wahrgenommenen Aehnlichkeit, meinten die einen, pwo_056.027
während anderen das Wohlgefallen an der poetischen Form vorschwebte, pwo_056.028
wieder anderen Vergnügen am Stoff, manchen aber schon pwo_056.029
richtiger aus der Anregung der Gefühle Vergnügen hervorzugehen schien.

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§ 35. pwo_056.031
Einheit der Dichtungsarten.
pwo_056.032

Jn demselben Prinzip der Gefühlserhebung ist weiterhin die pwo_056.033
Einheit der Dichtungsarten beschlossen.

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jedes poetischen Werkes.

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  Damit ist der einheitliche Zusammenhang von Ursache, Wesen pwo_056.012
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zwischen der Dichterseele und der Seele der Menschheit erkannt. Dieser pwo_056.014
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zugesprochen wurde.

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bestand, ist nunmehr überwunden. Hatte man die Nachahmung als pwo_056.020
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[56/0070] pwo_056.001 § 34. pwo_056.002 Einheit von Ursache und Wirkung in der Poesie. pwo_056.003   Jst das Wesen der Poesie Ausdruck gehobener Gefühle, so pwo_056.004 bilden gehobene Gefühle des Dichters die Voraussetzung, die Ursache pwo_056.005 jedes poetischen Werkes. pwo_056.006   Ferner: ist die Dichtung Ausdruck gehobener Gefühle, so besteht pwo_056.007 ihre Wirkung eben darin, daß sie diese gehobenen Gefühle überallhin, pwo_056.008 wohin sie wirkt, eindrückt. Hiernach erwirkt sie eine Gefühlserhebung pwo_056.009 im Publikum: das ist der eigentliche Sinn ihrer veredelnden pwo_056.010 Wirkung, die in scholastischer Auffassung als moralisierend erschien. pwo_056.011   Damit ist der einheitliche Zusammenhang von Ursache, Wesen pwo_056.012 und Wirkung der Poesie festgestellt und die Dichtung als Mittlerin pwo_056.013 zwischen der Dichterseele und der Seele der Menschheit erkannt. Dieser pwo_056.014 Beruf erscheint würdiger als er der Poesie ehedem im Vergnügen pwo_056.015 an Nachahmungskunststücken oder in der Bereicherung an guten Lehren pwo_056.016 zugesprochen wurde. pwo_056.017   Der Dualismus überdies, welcher zwischen Ursache und Wirkung pwo_056.018 der Poesie, wie in der Beziehung zwischen Dichter und Publikum pwo_056.019 bestand, ist nunmehr überwunden. Hatte man die Nachahmung als pwo_056.020 Ursache der Dichtkunst hingestellt, so war man noch immer in Zweifel, pwo_056.021 wie die Wirkung zu erklären sei, bis man bald das Vergnügen, bald pwo_056.022 die Belehrung als äußerlichen Notbehelf heranzog. Faßte man andererseits pwo_056.023 zunächst nur – um von dem so äußerlichen Belehrungsprinzip pwo_056.024 ganz zu geschweigen – das Vergnügen als Wirkung ins Auge, so pwo_056.025 blieb noch immer unentschieden, worin dieses Vergnügen bestand: in pwo_056.026 der Freude an der wahrgenommenen Aehnlichkeit, meinten die einen, pwo_056.027 während anderen das Wohlgefallen an der poetischen Form vorschwebte, pwo_056.028 wieder anderen Vergnügen am Stoff, manchen aber schon pwo_056.029 richtiger aus der Anregung der Gefühle Vergnügen hervorzugehen schien. pwo_056.030 § 35. pwo_056.031 Einheit der Dichtungsarten. pwo_056.032   Jn demselben Prinzip der Gefühlserhebung ist weiterhin die pwo_056.033 Einheit der Dichtungsarten beschlossen.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/70>, abgerufen am 17.05.2024.