Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_060.001 Haben wir uns dagegen die litteraturgeschichtlichen Thatsachen pwo_060.013 Wiederum haben wir der geschichtlichen Entwicklung zu folgen. pwo_060.016 Aber das Versmaß ist auch, je älter desto unbedingter, dem pwo_060.029 Das Versmaß an sich ist demnach sowohl ein Ausfluß des Gefühlsschwunges, pwo_060.035 pwo_060.001 Haben wir uns dagegen die litteraturgeschichtlichen Thatsachen pwo_060.013 Wiederum haben wir der geschichtlichen Entwicklung zu folgen. pwo_060.016 Aber das Versmaß ist auch, je älter desto unbedingter, dem pwo_060.029 Das Versmaß an sich ist demnach sowohl ein Ausfluß des Gefühlsschwunges, pwo_060.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0074" n="60"/><lb n="pwo_060.001"/> aus dem Tanz. Das Wohlgefallen am Rhythmus beruht <lb n="pwo_060.002"/> auf der Erinnerung an das Vergnügen des Tanzes; durch Vererbung <lb n="pwo_060.003"/> wird diese Erinnerung, dies Wohlgefallen so gesteigert, daß es späteren <lb n="pwo_060.004"/> Generationen vielleicht geradezu angeboren ist.“ Sehen wir <lb n="pwo_060.005"/> von der naturwissenschaftlichen Unzulänglichkeit dieses Erklärungsversuches <lb n="pwo_060.006"/> ab. Das Wohlgefallen am Vers soll aus der <hi rendition="#g">Erinnerung</hi> <lb n="pwo_060.007"/> an das Vergnügen des Tanzes entspringen: das wäre zum mindesten <lb n="pwo_060.008"/> ein sehr mittelbares Vergnügen, eine sehr entfernte Erinnerung! <lb n="pwo_060.009"/> Solche spekulativen oder naturwissenschaftlichen Deutungen sind so gut <lb n="pwo_060.010"/> wie das Eingeständnis des Unvermögens, der Sache auf den Grund <lb n="pwo_060.011"/> zu kommen.</p> <lb n="pwo_060.012"/> <p> Haben wir uns dagegen die litteraturgeschichtlichen Thatsachen <lb n="pwo_060.013"/> selbst zum Führer erwählt, so können uns diese nicht völlig vom <lb n="pwo_060.014"/> rechten Wege abirren lassen.</p> <lb n="pwo_060.015"/> <p> Wiederum haben wir der geschichtlichen Entwicklung zu folgen. <lb n="pwo_060.016"/> Jn Zusammenhang mit Musik und Tanz ist der <hi rendition="#g">Vers</hi> der ältesten <lb n="pwo_060.017"/> Poesie wohl begreiflich. Aber wann singen wir? wann tanzen wir? <lb n="pwo_060.018"/> Es fällt uns nicht bei, jede beliebige Thatsache, z. B. die Katze ist <lb n="pwo_060.019"/> grau, das Buch hat 24 Bogen oder dergl., singend und tanzend zum <lb n="pwo_060.020"/> Ausdruck zu bringen. Haben wir jedoch z. B. ein lang ersehntes <lb n="pwo_060.021"/> Ziel erreicht oder eine unerwartete Freude erfahren, dann jubeln und <lb n="pwo_060.022"/> springen wir wohl; ähnlich bei jeder andern lebhaften Gemütsbewegung. <lb n="pwo_060.023"/> Jn dieser Verwendung sehen wir die Form der ältesten Poesie. <lb n="pwo_060.024"/> Zur Höhe des Göttlichen sucht sich der poetische Ausdruck zu erheben; <lb n="pwo_060.025"/> sein Rhythmus folgt dem Schwung der Musik, dem Takt des Tanzens <lb n="pwo_060.026"/> oder Schreitens. So erscheint der poetische Ausdruck selbst als die <lb n="pwo_060.027"/> schwungvolle Sprache des schwungvollen Gefühls.</p> <lb n="pwo_060.028"/> <p> Aber das Versmaß ist auch, je älter desto unbedingter, dem <lb n="pwo_060.029"/> Jnhalt angeschmiegt und entsprechend. Das in dem Wechsel der <lb n="pwo_060.030"/> Worte wiederkehrende Metrum bildet einen einheitlichen Grundtakt, <lb n="pwo_060.031"/> auf den der ganze Jnhalt gestimmt ist, ein Leitmotiv der Empfindung, <lb n="pwo_060.032"/> welches durch ständige Wiederkehr das ihm zugrunde liegende Gefühl <lb n="pwo_060.033"/> stark hervortreten läßt oder sogar verstärkt.</p> <lb n="pwo_060.034"/> <p> Das Versmaß an sich ist demnach sowohl ein Ausfluß des Gefühlsschwunges, <lb n="pwo_060.035"/> als ein Mittel, welches zur Verstärkung des Gefühlsausdruckes <lb n="pwo_060.036"/> beiträgt. Der alte Langvers entspricht dem langen Anhalten </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [60/0074]
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aus dem Tanz. Das Wohlgefallen am Rhythmus beruht pwo_060.002
auf der Erinnerung an das Vergnügen des Tanzes; durch Vererbung pwo_060.003
wird diese Erinnerung, dies Wohlgefallen so gesteigert, daß es späteren pwo_060.004
Generationen vielleicht geradezu angeboren ist.“ Sehen wir pwo_060.005
von der naturwissenschaftlichen Unzulänglichkeit dieses Erklärungsversuches pwo_060.006
ab. Das Wohlgefallen am Vers soll aus der Erinnerung pwo_060.007
an das Vergnügen des Tanzes entspringen: das wäre zum mindesten pwo_060.008
ein sehr mittelbares Vergnügen, eine sehr entfernte Erinnerung! pwo_060.009
Solche spekulativen oder naturwissenschaftlichen Deutungen sind so gut pwo_060.010
wie das Eingeständnis des Unvermögens, der Sache auf den Grund pwo_060.011
zu kommen.
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Haben wir uns dagegen die litteraturgeschichtlichen Thatsachen pwo_060.013
selbst zum Führer erwählt, so können uns diese nicht völlig vom pwo_060.014
rechten Wege abirren lassen.
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Wiederum haben wir der geschichtlichen Entwicklung zu folgen. pwo_060.016
Jn Zusammenhang mit Musik und Tanz ist der Vers der ältesten pwo_060.017
Poesie wohl begreiflich. Aber wann singen wir? wann tanzen wir? pwo_060.018
Es fällt uns nicht bei, jede beliebige Thatsache, z. B. die Katze ist pwo_060.019
grau, das Buch hat 24 Bogen oder dergl., singend und tanzend zum pwo_060.020
Ausdruck zu bringen. Haben wir jedoch z. B. ein lang ersehntes pwo_060.021
Ziel erreicht oder eine unerwartete Freude erfahren, dann jubeln und pwo_060.022
springen wir wohl; ähnlich bei jeder andern lebhaften Gemütsbewegung. pwo_060.023
Jn dieser Verwendung sehen wir die Form der ältesten Poesie. pwo_060.024
Zur Höhe des Göttlichen sucht sich der poetische Ausdruck zu erheben; pwo_060.025
sein Rhythmus folgt dem Schwung der Musik, dem Takt des Tanzens pwo_060.026
oder Schreitens. So erscheint der poetische Ausdruck selbst als die pwo_060.027
schwungvolle Sprache des schwungvollen Gefühls.
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Aber das Versmaß ist auch, je älter desto unbedingter, dem pwo_060.029
Jnhalt angeschmiegt und entsprechend. Das in dem Wechsel der pwo_060.030
Worte wiederkehrende Metrum bildet einen einheitlichen Grundtakt, pwo_060.031
auf den der ganze Jnhalt gestimmt ist, ein Leitmotiv der Empfindung, pwo_060.032
welches durch ständige Wiederkehr das ihm zugrunde liegende Gefühl pwo_060.033
stark hervortreten läßt oder sogar verstärkt.
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Das Versmaß an sich ist demnach sowohl ein Ausfluß des Gefühlsschwunges, pwo_060.035
als ein Mittel, welches zur Verstärkung des Gefühlsausdruckes pwo_060.036
beiträgt. Der alte Langvers entspricht dem langen Anhalten
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