Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_082.001 "Niemals frommt Vielherrschaft im Volk; nur einer sei Herrscher, pwo_082.007 pwo_082.009Einer König allein, dem der Sohn des verborgenen Kronos pwo_082.008 Zepter gab und Gesetze, daß ihm die Obergewalt sei." Seelenschilderungen werden nicht mehr gescheut; und nicht immer pwo_082.010 "Atreus Sohn, von unendlichem Gram in der Seele verwundet, pwo_082.012 Doch kleiden sich längere Seelenkämpfe auch wieder in direkten Dialog pwo_082.014 Dieser Sachverhalt kann nicht überraschen, wenn wir erfahren, pwo_082.018 Nur steht der Dichter nun bereits mit Bewußtsein über pwo_082.024 Diese freiere Stellung gegenüber seinem Stoff ermöglicht dem pwo_082.001 „Niemals frommt Vielherrschaft im Volk; nur einer sei Herrscher, pwo_082.007 pwo_082.009Einer König allein, dem der Sohn des verborgenen Kronos pwo_082.008 Zepter gab und Gesetze, daß ihm die Obergewalt sei.“ Seelenschilderungen werden nicht mehr gescheut; und nicht immer pwo_082.010 „Atreus Sohn, von unendlichem Gram in der Seele verwundet, pwo_082.012 Doch kleiden sich längere Seelenkämpfe auch wieder in direkten Dialog pwo_082.014 Dieser Sachverhalt kann nicht überraschen, wenn wir erfahren, pwo_082.018 Nur steht der Dichter nun bereits mit Bewußtsein über pwo_082.024 Diese freiere Stellung gegenüber seinem Stoff ermöglicht dem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0096" n="82"/><lb n="pwo_082.001"/> allgemeiner Wahrheiten begegnen in reichem Maße: nur daß <lb n="pwo_082.002"/> sie immer, auch wo sie dem Dichter selbst aus dem Herzen gesprochen <lb n="pwo_082.003"/> scheinen, als organische Auslassung einzelner, nicht als unorganische <lb n="pwo_082.004"/> Zuthat des Dichters erscheinen. Nicht Homer, sondern sein Held <lb n="pwo_082.005"/> spricht die vielgerühmten Worte: <foreign xml:lang="grc">οὐκ ἀγαθὸν πολυκοιρανίη</foreign> –</p> <lb n="pwo_082.006"/> <lg> <l>„Niemals frommt Vielherrschaft im Volk; nur einer sei Herrscher,</l> <lb n="pwo_082.007"/> <l>Einer König allein, dem der Sohn des verborgenen Kronos</l> <lb n="pwo_082.008"/> <l>Zepter gab und Gesetze, daß ihm die Obergewalt sei.“</l> </lg> <lb n="pwo_082.009"/> <p><hi rendition="#g">Seelenschilderungen</hi> werden nicht mehr gescheut; und nicht immer <lb n="pwo_082.010"/> bleiben sie so kurz wie der Hinweis:</p> <lb n="pwo_082.011"/> <p> <hi rendition="#et">„Atreus Sohn, von unendlichem Gram in der Seele verwundet, <lb n="pwo_082.012"/> Wandelt umher ...“</hi> </p> <lb n="pwo_082.013"/> <p>Doch kleiden sich längere Seelenkämpfe auch wieder in direkten Dialog <lb n="pwo_082.014"/> und äußere Handlung – genug, nach allen Seiten sehen wir die <lb n="pwo_082.015"/> Vorzüge der alten und neuen, der liedartigen und litterarischen Erzählungsweise <lb n="pwo_082.016"/> vereint.</p> <lb n="pwo_082.017"/> <p> Dieser Sachverhalt kann nicht überraschen, wenn wir erfahren, <lb n="pwo_082.018"/> daß die beiden Epen Homers zwar aufgezeichnet, aber noch immer <lb n="pwo_082.019"/> mündlich vorgetragen, vielleicht sogar gesungen wurden. So gewiß <lb n="pwo_082.020"/> diese Dichtungen nach einem einheitlichen Plane in einheitlichem Geiste <lb n="pwo_082.021"/> für unmittelbare Niederschrift abgefaßt wurden, liegen ihnen doch auf <lb n="pwo_082.022"/> weiten Strecken Einzellieder als Quellen zugrunde.</p> <lb n="pwo_082.023"/> <p> Nur steht der Dichter nun bereits <hi rendition="#g">mit Bewußtsein über</hi> <lb n="pwo_082.024"/> seinem Stoff, in solch einer Mischung von Gläubigkeit und Selbständigkeit, <lb n="pwo_082.025"/> wie sie für das Stadium der Epopöe bezeichnend ist. <lb n="pwo_082.026"/> Noch frei von Skepsis und Jronie, bleibt Homer von Bewunderung <lb n="pwo_082.027"/> und Vertrauen für seine Götter und Helden erfüllt; aber sein Glaube <lb n="pwo_082.028"/> steht fest nur gegenüber dem Geist und den Grundzügen der Ueberlieferung; <lb n="pwo_082.029"/> er ist kein Wortgläubiger mehr, dem ein bewußtes An- <lb n="pwo_082.030"/> und Umordnen, ein auf künstlerischer Berechnung beruhendes Unterdrücken <lb n="pwo_082.031"/> und Hinzudichten als Entweihung und Vergewaltigung erschiene. <lb n="pwo_082.032"/> Mit <hi rendition="#g">künstlerischem</hi> Jnteresse, mit der Absicht, die Teile eines <lb n="pwo_082.033"/> nationalen Sagenkreises zu einer künstlerischen Einheit zusammenzufassen, <lb n="pwo_082.034"/> tritt der Dichter solcher Schriftwerke an seinen Stoff heran.</p> <lb n="pwo_082.035"/> <p> Diese freiere Stellung gegenüber seinem Stoff ermöglicht dem </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [82/0096]
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allgemeiner Wahrheiten begegnen in reichem Maße: nur daß pwo_082.002
sie immer, auch wo sie dem Dichter selbst aus dem Herzen gesprochen pwo_082.003
scheinen, als organische Auslassung einzelner, nicht als unorganische pwo_082.004
Zuthat des Dichters erscheinen. Nicht Homer, sondern sein Held pwo_082.005
spricht die vielgerühmten Worte: οὐκ ἀγαθὸν πολυκοιρανίη –
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„Niemals frommt Vielherrschaft im Volk; nur einer sei Herrscher, pwo_082.007
Einer König allein, dem der Sohn des verborgenen Kronos pwo_082.008
Zepter gab und Gesetze, daß ihm die Obergewalt sei.“
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Seelenschilderungen werden nicht mehr gescheut; und nicht immer pwo_082.010
bleiben sie so kurz wie der Hinweis:
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„Atreus Sohn, von unendlichem Gram in der Seele verwundet, pwo_082.012
Wandelt umher ...“
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Doch kleiden sich längere Seelenkämpfe auch wieder in direkten Dialog pwo_082.014
und äußere Handlung – genug, nach allen Seiten sehen wir die pwo_082.015
Vorzüge der alten und neuen, der liedartigen und litterarischen Erzählungsweise pwo_082.016
vereint.
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Dieser Sachverhalt kann nicht überraschen, wenn wir erfahren, pwo_082.018
daß die beiden Epen Homers zwar aufgezeichnet, aber noch immer pwo_082.019
mündlich vorgetragen, vielleicht sogar gesungen wurden. So gewiß pwo_082.020
diese Dichtungen nach einem einheitlichen Plane in einheitlichem Geiste pwo_082.021
für unmittelbare Niederschrift abgefaßt wurden, liegen ihnen doch auf pwo_082.022
weiten Strecken Einzellieder als Quellen zugrunde.
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Nur steht der Dichter nun bereits mit Bewußtsein über pwo_082.024
seinem Stoff, in solch einer Mischung von Gläubigkeit und Selbständigkeit, pwo_082.025
wie sie für das Stadium der Epopöe bezeichnend ist. pwo_082.026
Noch frei von Skepsis und Jronie, bleibt Homer von Bewunderung pwo_082.027
und Vertrauen für seine Götter und Helden erfüllt; aber sein Glaube pwo_082.028
steht fest nur gegenüber dem Geist und den Grundzügen der Ueberlieferung; pwo_082.029
er ist kein Wortgläubiger mehr, dem ein bewußtes An- pwo_082.030
und Umordnen, ein auf künstlerischer Berechnung beruhendes Unterdrücken pwo_082.031
und Hinzudichten als Entweihung und Vergewaltigung erschiene. pwo_082.032
Mit künstlerischem Jnteresse, mit der Absicht, die Teile eines pwo_082.033
nationalen Sagenkreises zu einer künstlerischen Einheit zusammenzufassen, pwo_082.034
tritt der Dichter solcher Schriftwerke an seinen Stoff heran.
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Diese freiere Stellung gegenüber seinem Stoff ermöglicht dem
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