Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_085.001 "Sagt' ich dir nicht, woran des Vaters Haupt pwo_085.002 Zu kennen sei? Doch du hast nicht geglaubt! pwo_085.003 Nun dein beraubt und ohne Lebenskraft, pwo_085.004 Verzweifelnd lieg' ich in Gefangenschaft! pwo_085.005 Warum nicht folgt' ich dir auf deiner Fahrt? pwo_085.006 Vielleicht vor Unheil hätt' ich dich bewahrt." pwo_085.007 § 50. pwo_085.008 pwo_085.009Fortsetzung: Durchbrechung der organischen Entwicklung. Bevor wir die Entwicklung des epischen Stils bei uns in pwo_085.010 Besonders für die modernen Völker bezeichnet diese epochemachende pwo_085.017 pwo_085.001 „Sagt' ich dir nicht, woran des Vaters Haupt pwo_085.002 Zu kennen sei? Doch du hast nicht geglaubt! pwo_085.003 Nun dein beraubt und ohne Lebenskraft, pwo_085.004 Verzweifelnd lieg' ich in Gefangenschaft! pwo_085.005 Warum nicht folgt' ich dir auf deiner Fahrt? pwo_085.006 Vielleicht vor Unheil hätt' ich dich bewahrt.“ pwo_085.007 § 50. pwo_085.008 pwo_085.009Fortsetzung: Durchbrechung der organischen Entwicklung. Bevor wir die Entwicklung des epischen Stils bei uns in pwo_085.010 Besonders für die modernen Völker bezeichnet diese epochemachende pwo_085.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0099" n="85"/> <lb n="pwo_085.001"/> <lg> <l>„Sagt' ich dir nicht, woran des Vaters Haupt</l> <lb n="pwo_085.002"/> <l>Zu kennen sei? Doch du hast nicht geglaubt!</l> <lb n="pwo_085.003"/> <l>Nun dein beraubt und ohne Lebenskraft,</l> <lb n="pwo_085.004"/> <l>Verzweifelnd lieg' ich in Gefangenschaft!</l> <lb n="pwo_085.005"/> <l>Warum nicht folgt' ich dir auf deiner Fahrt?</l> <lb n="pwo_085.006"/> <l>Vielleicht vor Unheil hätt' ich dich bewahrt.“</l> </lg> </div> <div n="3"> <lb n="pwo_085.007"/> <head> <hi rendition="#c">§ 50. <lb n="pwo_085.008"/> Fortsetzung: Durchbrechung der organischen Entwicklung.</hi> </head> <lb n="pwo_085.009"/> <p> Bevor wir die Entwicklung des epischen Stils bei uns in <lb n="pwo_085.010"/> Deutschland eingehend verfolgen, müssen wir mit der Thatsache rechnen, <lb n="pwo_085.011"/> daß der Volksgeist inzwischen sich selten rein, selten unbeeinflußt <lb n="pwo_085.012"/> von fremden, auf ihn von außen eindringenden Bildungselementen <lb n="pwo_085.013"/> erhält, und so auch die Poesie, die noch immer im wesentlichen Erzählungskunst <lb n="pwo_085.014"/> ist, unorganischer Beeinflussung ihrer Entwicklung ausgesetzt <lb n="pwo_085.015"/> ist.</p> <lb n="pwo_085.016"/> <p> Besonders für die modernen Völker bezeichnet diese epochemachende <lb n="pwo_085.017"/> Krise der Eintritt des <hi rendition="#g">Christentums.</hi> Jn deutscher Sprache liegen <lb n="pwo_085.018"/> selbst ein paar heidnische <hi rendition="#g">Zaubersprüche</hi> mit epischer Haltung vor, <lb n="pwo_085.019"/> in welche nachträglich christliche Namen und Vorstellungen hineingetragen <lb n="pwo_085.020"/> wurden. Charakteristisch für die zunächst unorganische Vermischung <lb n="pwo_085.021"/> der heidnisch-nationalen und der christlich-weltreligiösen Elemente erscheinen <lb n="pwo_085.022"/> für unsere Dichtung alsdann zunächst zwei kleine christliche <lb n="pwo_085.023"/> Dichtungen, die sich weder heidnischer Vorstellungen noch des alten <lb n="pwo_085.024"/> nationalen Stils erwehren können. Jm <hi rendition="#g">Wessobrunner Gebet</hi> <lb n="pwo_085.025"/> herrschen die formelhaften Elemente so weit vor, daß sich allerhand <lb n="pwo_085.026"/> Berührungen mit andern Gedichten ergeben. Das <hi rendition="#g">Muspilli</hi> versucht <lb n="pwo_085.027"/> schon höchst bezeichnend eine kriegerische Einkleidung der christlichen <lb n="pwo_085.028"/> Lehre. Eine gewaltige Phantasie gefällt sich in Ausmalung <lb n="pwo_085.029"/> der Schrecken des Jüngsten Gerichtes; die Entwicklung geschieht durchaus <lb n="pwo_085.030"/> anschaulich: sowohl der Streit zwischen Elias und dem Antichristen <lb n="pwo_085.031"/> als der Aufzug zum Gericht entfaltet sich in scenischer Folge. Der <lb n="pwo_085.032"/> zweite Teil beginnt mit einer Quellenberufung. Die gliedweise Beschreibung, <lb n="pwo_085.033"/> der alte Parallelismus hält zu unerschöpflicher Ausmalung <lb n="pwo_085.034"/> der Situation her. Jm ganzen ist doch im Stil das Lyrisch-Christliche <lb n="pwo_085.035"/> vom Episch-Nationalen überwuchert. Doch schon finden sich Erläuterungen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [85/0099]
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Zu kennen sei? Doch du hast nicht geglaubt! pwo_085.003
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Warum nicht folgt' ich dir auf deiner Fahrt? pwo_085.006
Vielleicht vor Unheil hätt' ich dich bewahrt.“
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§ 50. pwo_085.008
Fortsetzung: Durchbrechung der organischen Entwicklung. pwo_085.009
Bevor wir die Entwicklung des epischen Stils bei uns in pwo_085.010
Deutschland eingehend verfolgen, müssen wir mit der Thatsache rechnen, pwo_085.011
daß der Volksgeist inzwischen sich selten rein, selten unbeeinflußt pwo_085.012
von fremden, auf ihn von außen eindringenden Bildungselementen pwo_085.013
erhält, und so auch die Poesie, die noch immer im wesentlichen Erzählungskunst pwo_085.014
ist, unorganischer Beeinflussung ihrer Entwicklung ausgesetzt pwo_085.015
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Besonders für die modernen Völker bezeichnet diese epochemachende pwo_085.017
Krise der Eintritt des Christentums. Jn deutscher Sprache liegen pwo_085.018
selbst ein paar heidnische Zaubersprüche mit epischer Haltung vor, pwo_085.019
in welche nachträglich christliche Namen und Vorstellungen hineingetragen pwo_085.020
wurden. Charakteristisch für die zunächst unorganische Vermischung pwo_085.021
der heidnisch-nationalen und der christlich-weltreligiösen Elemente erscheinen pwo_085.022
für unsere Dichtung alsdann zunächst zwei kleine christliche pwo_085.023
Dichtungen, die sich weder heidnischer Vorstellungen noch des alten pwo_085.024
nationalen Stils erwehren können. Jm Wessobrunner Gebet pwo_085.025
herrschen die formelhaften Elemente so weit vor, daß sich allerhand pwo_085.026
Berührungen mit andern Gedichten ergeben. Das Muspilli versucht pwo_085.027
schon höchst bezeichnend eine kriegerische Einkleidung der christlichen pwo_085.028
Lehre. Eine gewaltige Phantasie gefällt sich in Ausmalung pwo_085.029
der Schrecken des Jüngsten Gerichtes; die Entwicklung geschieht durchaus pwo_085.030
anschaulich: sowohl der Streit zwischen Elias und dem Antichristen pwo_085.031
als der Aufzug zum Gericht entfaltet sich in scenischer Folge. Der pwo_085.032
zweite Teil beginnt mit einer Quellenberufung. Die gliedweise Beschreibung, pwo_085.033
der alte Parallelismus hält zu unerschöpflicher Ausmalung pwo_085.034
der Situation her. Jm ganzen ist doch im Stil das Lyrisch-Christliche pwo_085.035
vom Episch-Nationalen überwuchert. Doch schon finden sich Erläuterungen
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