Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

so wohl verständlich ist. Ihr Verhältniß zu R. erscheint in der That wie ein offenes Geheimniß, was sie indessen nicht zu ahnen scheint, in der Voraussetzung, man werde der Verwandtschaft diesen Antheil zuschreiben. Mit aller Achtung für Familienbande ist dieses indessen doch kaum möglich.

Meine Heiterkeit ist allmählich zurückgekehrt, denn ich leugne es nicht, daß der halb bewußtlos von ihm ausgeübte Zauber sie augenblicklich getrübt hatte. Die Saite, welche einmal erklang, vermag auch der leiseste Anhauch wieder zu bewegen, Musik ist es nicht mehr, aber ein Laut, welcher daran erinnert. Für heute sage ich dir ein herzliches Lebewohl, aber bald schreibe ich wieder.

R. an Sophie.

Endlich, theure Sophie, habe ich das vorläufige Ziel meiner Reise erreicht. Ich bin seit gestern in London und, von einer unzähligen, unabsehbaren Menschenmenge umgeben, umwogt, fühle ich mich dennoch einsam, einsamer vielleicht, als befände ich mich in der abgeschlossensten Wüste. Welch ein seltsames Gefühl, sich sagen zu müssen: du bist von Tausenden umgeben, und kein Auge sucht dich, kein Herz schlägt schneller, wenn es dich erblickt, kein Pulsschlag regt sich lebendiger bei Nennung deines Namens, du bist allein, ungekannt, ungeliebt! -- Und wenn man dann wieder

so wohl verständlich ist. Ihr Verhältniß zu R. erscheint in der That wie ein offenes Geheimniß, was sie indessen nicht zu ahnen scheint, in der Voraussetzung, man werde der Verwandtschaft diesen Antheil zuschreiben. Mit aller Achtung für Familienbande ist dieses indessen doch kaum möglich.

Meine Heiterkeit ist allmählich zurückgekehrt, denn ich leugne es nicht, daß der halb bewußtlos von ihm ausgeübte Zauber sie augenblicklich getrübt hatte. Die Saite, welche einmal erklang, vermag auch der leiseste Anhauch wieder zu bewegen, Musik ist es nicht mehr, aber ein Laut, welcher daran erinnert. Für heute sage ich dir ein herzliches Lebewohl, aber bald schreibe ich wieder.

R. an Sophie.

Endlich, theure Sophie, habe ich das vorläufige Ziel meiner Reise erreicht. Ich bin seit gestern in London und, von einer unzähligen, unabsehbaren Menschenmenge umgeben, umwogt, fühle ich mich dennoch einsam, einsamer vielleicht, als befände ich mich in der abgeschlossensten Wüste. Welch ein seltsames Gefühl, sich sagen zu müssen: du bist von Tausenden umgeben, und kein Auge sucht dich, kein Herz schlägt schneller, wenn es dich erblickt, kein Pulsschlag regt sich lebendiger bei Nennung deines Namens, du bist allein, ungekannt, ungeliebt! — Und wenn man dann wieder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter">
        <p><pb facs="#f0046"/>
so wohl verständlich ist. Ihr Verhältniß zu R. erscheint in der That      wie ein offenes Geheimniß, was sie indessen nicht zu ahnen scheint, in der Voraussetzung, man      werde der Verwandtschaft diesen Antheil zuschreiben. Mit aller Achtung für Familienbande ist      dieses indessen doch kaum möglich.</p><lb/>
        <p>Meine Heiterkeit ist allmählich zurückgekehrt, denn ich leugne es nicht, daß der halb      bewußtlos von ihm ausgeübte Zauber sie augenblicklich getrübt hatte. Die Saite, welche einmal      erklang, vermag auch der leiseste Anhauch wieder zu bewegen, Musik ist es nicht mehr, aber ein      Laut, welcher daran erinnert. Für heute sage ich dir ein herzliches Lebewohl, aber bald      schreibe ich wieder.</p><lb/>
      </div>
      <div type="letter">
        <head>R. an Sophie.</head>
        <p>Endlich, theure Sophie, habe ich das vorläufige Ziel meiner Reise erreicht. Ich bin seit      gestern in London und, von einer unzähligen, unabsehbaren Menschenmenge umgeben, umwogt, fühle      ich mich dennoch einsam, einsamer vielleicht, als befände ich mich in der abgeschlossensten      Wüste. Welch ein seltsames Gefühl, sich sagen zu müssen: du bist von Tausenden umgeben, und      kein Auge sucht dich, kein Herz schlägt schneller, wenn es dich erblickt, kein Pulsschlag regt      sich lebendiger bei Nennung deines Namens, du bist allein, ungekannt, ungeliebt! &#x2014; Und wenn man      dann wieder<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0046] so wohl verständlich ist. Ihr Verhältniß zu R. erscheint in der That wie ein offenes Geheimniß, was sie indessen nicht zu ahnen scheint, in der Voraussetzung, man werde der Verwandtschaft diesen Antheil zuschreiben. Mit aller Achtung für Familienbande ist dieses indessen doch kaum möglich. Meine Heiterkeit ist allmählich zurückgekehrt, denn ich leugne es nicht, daß der halb bewußtlos von ihm ausgeübte Zauber sie augenblicklich getrübt hatte. Die Saite, welche einmal erklang, vermag auch der leiseste Anhauch wieder zu bewegen, Musik ist es nicht mehr, aber ein Laut, welcher daran erinnert. Für heute sage ich dir ein herzliches Lebewohl, aber bald schreibe ich wieder. R. an Sophie. Endlich, theure Sophie, habe ich das vorläufige Ziel meiner Reise erreicht. Ich bin seit gestern in London und, von einer unzähligen, unabsehbaren Menschenmenge umgeben, umwogt, fühle ich mich dennoch einsam, einsamer vielleicht, als befände ich mich in der abgeschlossensten Wüste. Welch ein seltsames Gefühl, sich sagen zu müssen: du bist von Tausenden umgeben, und kein Auge sucht dich, kein Herz schlägt schneller, wenn es dich erblickt, kein Pulsschlag regt sich lebendiger bei Nennung deines Namens, du bist allein, ungekannt, ungeliebt! — Und wenn man dann wieder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:52:17Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/46
Zitationshilfe: F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/46>, abgerufen am 21.11.2024.