Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Christian von: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle (Saale), 1754.

Bild:
<< vorherige Seite

Von der Auslegung.
er, da er redete, gedacht hat; so muß die
Auslegung davon gemacht werden,
was einer wahrscheinlicher Weise ge-
dacht hat, nicht aber so, daß sie dem-
selben entgegen sey.
Weil uns aber nicht
allzeit alle Umstände, die beym Geschäffte vor-
kommen, vor Augen schweben, so daß man
seinen Sinn denselben gemäß ausdrückte; so
muß man die Auslegung so machen,
wie sie der selbst machen würde, dessen
Worte man auslegen will, wenn er
gegenwärtig wäre, oder ihm das be-
kannt gewesen wäre, was nun offen-
bar ist.

§. 811.

Eine erweiterte Auslegung (inter-Von der
erweiter-
ten Aus-
legung.

pretatio extensiva) nennt man, wenn man den
Sinn dessen, der etwas gesprochen, auf sol-
che Fälle erstrecket, die unter den Worten,
welche das Versprechen, oder den Vertrag in
sich enthalten, nach dem gantzen Umfange ih-
rer Bedeutung nicht mit begriffen sind, weil
eben derselbe Bewegungsgrund bey ihnen statt
findet, warum er das, wovon er redet, gewolt,
oder nicht gewolt. Weil man etwas will,
oder nicht will, wenn ein hinreichender Grund
etwas zu wollen, oder nicht zu wollen vorhan-
den; so ist nicht zu zweifeln, daß wenn einer,
da er geredet, an den sich jetzt ereignenden
Fall gedacht hätte, er auch seine Worte auf
denselben mit würde gerichtet haben; folglich

muß
P p 3

Von der Auslegung.
er, da er redete, gedacht hat; ſo muß die
Auslegung davon gemacht werden,
was einer wahrſcheinlicher Weiſe ge-
dacht hat, nicht aber ſo, daß ſie dem-
ſelben entgegen ſey.
Weil uns aber nicht
allzeit alle Umſtaͤnde, die beym Geſchaͤffte vor-
kommen, vor Augen ſchweben, ſo daß man
ſeinen Sinn denſelben gemaͤß ausdruͤckte; ſo
muß man die Auslegung ſo machen,
wie ſie der ſelbſt machen wuͤrde, deſſen
Worte man auslegen will, wenn er
gegenwaͤrtig waͤre, oder ihm das be-
kannt geweſen waͤre, was nun offen-
bar iſt.

§. 811.

Eine erweiterte Auslegung (inter-Von der
erweiter-
ten Aus-
legung.

pretatio extenſiva) nennt man, wenn man den
Sinn deſſen, der etwas geſprochen, auf ſol-
che Faͤlle erſtrecket, die unter den Worten,
welche das Verſprechen, oder den Vertrag in
ſich enthalten, nach dem gantzen Umfange ih-
rer Bedeutung nicht mit begriffen ſind, weil
eben derſelbe Bewegungsgrund bey ihnen ſtatt
findet, warum er das, wovon er redet, gewolt,
oder nicht gewolt. Weil man etwas will,
oder nicht will, wenn ein hinreichender Grund
etwas zu wollen, oder nicht zu wollen vorhan-
den; ſo iſt nicht zu zweifeln, daß wenn einer,
da er geredet, an den ſich jetzt ereignenden
Fall gedacht haͤtte, er auch ſeine Worte auf
denſelben mit wuͤrde gerichtet haben; folglich

muß
P p 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0633" n="597"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von der Auslegung.</hi></fw><lb/>
er, da er redete, gedacht hat; <hi rendition="#fr">&#x017F;o muß die<lb/>
Auslegung davon gemacht werden,<lb/>
was einer wahr&#x017F;cheinlicher Wei&#x017F;e ge-<lb/>
dacht hat, nicht aber &#x017F;o, daß &#x017F;ie dem-<lb/>
&#x017F;elben entgegen &#x017F;ey.</hi> Weil uns aber nicht<lb/>
allzeit alle Um&#x017F;ta&#x0364;nde, die beym Ge&#x017F;cha&#x0364;ffte vor-<lb/>
kommen, vor Augen &#x017F;chweben, &#x017F;o daß man<lb/>
&#x017F;einen Sinn den&#x017F;elben gema&#x0364;ß ausdru&#x0364;ckte; <hi rendition="#fr">&#x017F;o<lb/>
muß man die Auslegung &#x017F;o machen,<lb/>
wie &#x017F;ie der &#x017F;elb&#x017F;t machen wu&#x0364;rde, de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Worte man auslegen will, wenn er<lb/>
gegenwa&#x0364;rtig wa&#x0364;re, oder ihm das be-<lb/>
kannt gewe&#x017F;en wa&#x0364;re, was nun offen-<lb/>
bar i&#x017F;t.</hi></p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 811.</head><lb/>
              <p><hi rendition="#fr">Eine erweiterte Auslegung</hi><hi rendition="#aq">(inter-</hi><note place="right">Von der<lb/>
erweiter-<lb/>
ten Aus-<lb/>
legung.</note><lb/><hi rendition="#aq">pretatio exten&#x017F;iva)</hi> nennt man, wenn man den<lb/>
Sinn de&#x017F;&#x017F;en, der etwas ge&#x017F;prochen, auf &#x017F;ol-<lb/>
che Fa&#x0364;lle er&#x017F;trecket, die unter den Worten,<lb/>
welche das Ver&#x017F;prechen, oder den Vertrag in<lb/>
&#x017F;ich enthalten, nach dem gantzen Umfange ih-<lb/>
rer Bedeutung nicht mit begriffen &#x017F;ind, weil<lb/>
eben der&#x017F;elbe Bewegungsgrund bey ihnen &#x017F;tatt<lb/>
findet, warum er das, wovon er redet, gewolt,<lb/>
oder nicht gewolt. Weil man etwas will,<lb/>
oder nicht will, wenn ein hinreichender Grund<lb/>
etwas zu wollen, oder nicht zu wollen vorhan-<lb/>
den; &#x017F;o i&#x017F;t nicht zu zweifeln, daß wenn einer,<lb/>
da er geredet, an den &#x017F;ich jetzt ereignenden<lb/>
Fall gedacht ha&#x0364;tte, er auch &#x017F;eine Worte auf<lb/>
den&#x017F;elben mit wu&#x0364;rde gerichtet haben; folglich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P p 3</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">muß</hi></fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[597/0633] Von der Auslegung. er, da er redete, gedacht hat; ſo muß die Auslegung davon gemacht werden, was einer wahrſcheinlicher Weiſe ge- dacht hat, nicht aber ſo, daß ſie dem- ſelben entgegen ſey. Weil uns aber nicht allzeit alle Umſtaͤnde, die beym Geſchaͤffte vor- kommen, vor Augen ſchweben, ſo daß man ſeinen Sinn denſelben gemaͤß ausdruͤckte; ſo muß man die Auslegung ſo machen, wie ſie der ſelbſt machen wuͤrde, deſſen Worte man auslegen will, wenn er gegenwaͤrtig waͤre, oder ihm das be- kannt geweſen waͤre, was nun offen- bar iſt. §. 811. Eine erweiterte Auslegung (inter- pretatio extenſiva) nennt man, wenn man den Sinn deſſen, der etwas geſprochen, auf ſol- che Faͤlle erſtrecket, die unter den Worten, welche das Verſprechen, oder den Vertrag in ſich enthalten, nach dem gantzen Umfange ih- rer Bedeutung nicht mit begriffen ſind, weil eben derſelbe Bewegungsgrund bey ihnen ſtatt findet, warum er das, wovon er redet, gewolt, oder nicht gewolt. Weil man etwas will, oder nicht will, wenn ein hinreichender Grund etwas zu wollen, oder nicht zu wollen vorhan- den; ſo iſt nicht zu zweifeln, daß wenn einer, da er geredet, an den ſich jetzt ereignenden Fall gedacht haͤtte, er auch ſeine Worte auf denſelben mit wuͤrde gerichtet haben; folglich muß Von der erweiter- ten Aus- legung. P p 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_voelckerrecht_1754
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_voelckerrecht_1754/633
Zitationshilfe: Wolff, Christian von: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle (Saale), 1754, S. 597. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_voelckerrecht_1754/633>, abgerufen am 22.11.2024.