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Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784.

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ich dort empfange? Was jeder Gedanke an sei-
nen Tod? Verkündigen sie mir nichts mehr, als
die bloße Geschichte seines Leidens und Todes?
Zeigen sie mir nur den thränenvollen Freund,
der den Seinigen das lezte Lebewohl sagt? nur
den Zitternden und Zagenden im Staube des
Oelberges hingestreckt, bis zum Tode betrübt?
nur die Todesangst auf seiner Miene? nur die
Erde von seinem Blute gefärbt? Zeigen sie mir
nur den Unschuldigen, den Menschenfreund, von
seinem heuchlerischen undankbaren Jünger verra-
then, mit Ketten belastet? nur den Verlänmde-
ten und Geschmähten, und mit Unrecht Verur-
theilten? nur die Säule, an welche man ihn band,
die Geißel welche ihn zerfleischt, die Dornenkro-
ne in sein Haupt gegraben, den Rohrstab zur
Schmach in seiner Hand? Zeigen sie mir nur
den Müden und Quaalenvollen, und dennoch
nicht Unterliegenden; den Beweinten, und den-
noch Trostvollen; den Beleidigten und Gekränk-
ten, und dennoch Versöhnlichen, der sein Kreuz
zu seinem Todeshügel trägt? nur den Wohlthä-
ter, unter Uebelthätern gekreuzigt? nur den
Dürstenden, den von Gott und Menschen Verlaß-
nen? Zeigen sie mir nur den Golgatha, auf wel-
chem er erblaßte? nur das Grab, das seine ent-

seel-



ich dort empfange? Was jeder Gedanke an ſei-
nen Tod? Verkündigen ſie mir nichts mehr, als
die bloße Geſchichte ſeines Leidens und Todes?
Zeigen ſie mir nur den thränenvollen Freund,
der den Seinigen das lezte Lebewohl ſagt? nur
den Zitternden und Zagenden im Staube des
Oelberges hingeſtreckt, bis zum Tode betrübt?
nur die Todesangſt auf ſeiner Miene? nur die
Erde von ſeinem Blute gefärbt? Zeigen ſie mir
nur den Unſchuldigen, den Menſchenfreund, von
ſeinem heuchleriſchen undankbaren Jünger verra-
then, mit Ketten belaſtet? nur den Verlänmde-
ten und Geſchmähten, und mit Unrecht Verur-
theilten? nur die Säule, an welche man ihn band,
die Geißel welche ihn zerfleiſcht, die Dornenkro-
ne in ſein Haupt gegraben, den Rohrſtab zur
Schmach in ſeiner Hand? Zeigen ſie mir nur
den Müden und Quaalenvollen, und dennoch
nicht Unterliegenden; den Beweinten, und den-
noch Troſtvollen; den Beleidigten und Gekränk-
ten, und dennoch Verſöhnlichen, der ſein Kreuz
zu ſeinem Todeshügel trägt? nur den Wohlthä-
ter, unter Uebelthätern gekreuzigt? nur den
Dürſtenden, den von Gott und Menſchen Verlaß-
nen? Zeigen ſie mir nur den Golgatha, auf wel-
chem er erblaßte? nur das Grab, das ſeine ent-

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[198/0250] ich dort empfange? Was jeder Gedanke an ſei- nen Tod? Verkündigen ſie mir nichts mehr, als die bloße Geſchichte ſeines Leidens und Todes? Zeigen ſie mir nur den thränenvollen Freund, der den Seinigen das lezte Lebewohl ſagt? nur den Zitternden und Zagenden im Staube des Oelberges hingeſtreckt, bis zum Tode betrübt? nur die Todesangſt auf ſeiner Miene? nur die Erde von ſeinem Blute gefärbt? Zeigen ſie mir nur den Unſchuldigen, den Menſchenfreund, von ſeinem heuchleriſchen undankbaren Jünger verra- then, mit Ketten belaſtet? nur den Verlänmde- ten und Geſchmähten, und mit Unrecht Verur- theilten? nur die Säule, an welche man ihn band, die Geißel welche ihn zerfleiſcht, die Dornenkro- ne in ſein Haupt gegraben, den Rohrſtab zur Schmach in ſeiner Hand? Zeigen ſie mir nur den Müden und Quaalenvollen, und dennoch nicht Unterliegenden; den Beweinten, und den- noch Troſtvollen; den Beleidigten und Gekränk- ten, und dennoch Verſöhnlichen, der ſein Kreuz zu ſeinem Todeshügel trägt? nur den Wohlthä- ter, unter Uebelthätern gekreuzigt? nur den Dürſtenden, den von Gott und Menſchen Verlaß- nen? Zeigen ſie mir nur den Golgatha, auf wel- chem er erblaßte? nur das Grab, das ſeine ent- ſeel-

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Zitationshilfe: Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/250>, abgerufen am 27.11.2024.