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Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784.

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Leichtsinnigen, die im Namen unsrer finn-
lichen Begierden, im Namen zeitlicher uns
so nahe liegender Vortheile uns anliegen?

In der Einsamkeit muß der Christ
sein eigner Lehrer und Rathgeber zur Tu-
gend werden; die Einsamkeit öffnet ihm
die Einsicht in sein Herz; damit er in seine
geheimsten Tiefen durchdringe, seine Lieb-
lingsgedanken, -- seine leisesten Neigun-
gen, -- seine oft schlummernden Triebe
und Leidenschaften, -- seine schwache am
leichtsten angefochtne Seite, neben der gu-
ten und stärkern, -- kennen lerne. Die
Einsamkeit führt ihn in die verfloßnen Ta-
ge
zurück; damit er sich für jedes unter-
laßene Gute, für jeden begangnen größern
und kleinern Fehler, und seine Veranlas-
sung, wie für seine besten Thaten und ihre
verborgensten Absichten zur Rechenschaft
fordre. Die Einsamkeit zeigt ihm den
großen Schauplatz der Welt, wie aus
der Ferne; damit er sich selbst auf demsel-

ben,



Leichtſinnigen, die im Namen unſrer finn-
lichen Begierden, im Namen zeitlicher uns
ſo nahe liegender Vortheile uns anliegen?

In der Einſamkeit muß der Chriſt
ſein eigner Lehrer und Rathgeber zur Tu-
gend werden; die Einſamkeit öffnet ihm
die Einſicht in ſein Herz; damit er in ſeine
geheimſten Tiefen durchdringe, ſeine Lieb-
lingsgedanken, — ſeine leiſeſten Neigun-
gen, — ſeine oft ſchlummernden Triebe
und Leidenſchaften, — ſeine ſchwache am
leichtſten angefochtne Seite, neben der gu-
ten und ſtärkern, — kennen lerne. Die
Einſamkeit führt ihn in die verfloßnen Ta-
ge
zurück; damit er ſich für jedes unter-
laßene Gute, für jeden begangnen größern
und kleinern Fehler, und ſeine Veranlaſ-
ſung, wie für ſeine beſten Thaten und ihre
verborgenſten Abſichten zur Rechenſchaft
fordre. Die Einſamkeit zeigt ihm den
großen Schauplatz der Welt, wie aus
der Ferne; damit er ſich ſelbſt auf demſel-

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[XXXII/0036] Leichtſinnigen, die im Namen unſrer finn- lichen Begierden, im Namen zeitlicher uns ſo nahe liegender Vortheile uns anliegen? In der Einſamkeit muß der Chriſt ſein eigner Lehrer und Rathgeber zur Tu- gend werden; die Einſamkeit öffnet ihm die Einſicht in ſein Herz; damit er in ſeine geheimſten Tiefen durchdringe, ſeine Lieb- lingsgedanken, — ſeine leiſeſten Neigun- gen, — ſeine oft ſchlummernden Triebe und Leidenſchaften, — ſeine ſchwache am leichtſten angefochtne Seite, neben der gu- ten und ſtärkern, — kennen lerne. Die Einſamkeit führt ihn in die verfloßnen Ta- ge zurück; damit er ſich für jedes unter- laßene Gute, für jeden begangnen größern und kleinern Fehler, und ſeine Veranlaſ- ſung, wie für ſeine beſten Thaten und ihre verborgenſten Abſichten zur Rechenſchaft fordre. Die Einſamkeit zeigt ihm den großen Schauplatz der Welt, wie aus der Ferne; damit er ſich ſelbſt auf demſel- ben,

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Zitationshilfe: Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784, S. XXXII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/36>, abgerufen am 21.11.2024.