Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784.heute noch wohl manche Unvorsichtigkeit, dadurch er seinen Vortheilen im Wege gestanden, und freut sich mancher Mühe, dadurch er seine zeit- lichen Umstände mehr erhoben hat: und der Freund der Tugend, berechnet die Summe sei- ner guten Thaten und seiner Fehltritte, wieder- hohlt sich die Freude über jene, und erneuert sei- ne Reue über diese. So denk ich, mit der grö- sten Zahl meiner Mitbrüder, deren jeden seine Angelegenheiten beschäftigen, auch an die meini- gen zurück; und je einsamer und länger ich mich diesen Betrachtungen überlaße, desto weiter seh ich noch jenseit des verfloßnen Jahres hinaus: -- Längstverstrichne Freuden oder Unglücksfälle; fromme Empfindungen und Thaten, und Ver- gehungen meiner Leidenschaften; Tage und Be- gebenheiten, welche mir in irgend einer Absicht merkwürdig waren; schweben noch aus den Zei- ten der Kindheit und Jugend, heute wieder mei- nem Gedächtniße vor: und es scheint mir, als sähe ich, von einer erreichten Höhe, auf die un- ter mir liegenden Tage hinab -- Aber, wie enge ist doch dieser Gesichtskreis, gegen den be- rechnet, den ich einst werde unter mir liegen sehn, wenn auch ich nun, jene lezte steilste Höhe am Ziel, zu welcher wir alle durch die Pforten des To-
heute noch wohl manche Unvorſichtigkeit, dadurch er ſeinen Vortheilen im Wege geſtanden, und freut ſich mancher Mühe, dadurch er ſeine zeit- lichen Umſtände mehr erhoben hat: und der Freund der Tugend, berechnet die Summe ſei- ner guten Thaten und ſeiner Fehltritte, wieder- hohlt ſich die Freude über jene, und erneuert ſei- ne Reue über dieſe. So denk ich, mit der grö- ſten Zahl meiner Mitbrüder, deren jeden ſeine Angelegenheiten beſchäftigen, auch an die meini- gen zurück; und je einſamer und länger ich mich dieſen Betrachtungen überlaße, deſto weiter ſeh ich noch jenſeit des verfloßnen Jahres hinaus: — Längſtverſtrichne Freuden oder Unglücksfälle; fromme Empfindungen und Thaten, und Ver- gehungen meiner Leidenſchaften; Tage und Be- gebenheiten, welche mir in irgend einer Abſicht merkwürdig waren; ſchweben noch aus den Zei- ten der Kindheit und Jugend, heute wieder mei- nem Gedächtniße vor: und es ſcheint mir, als ſähe ich, von einer erreichten Höhe, auf die un- ter mir liegenden Tage hinab — Aber, wie enge iſt doch dieſer Geſichtskreis, gegen den be- rechnet, den ich einſt werde unter mir liegen ſehn, wenn auch ich nun, jene lezte ſteilſte Höhe am Ziel, zu welcher wir alle durch die Pforten des To-
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0402" n="350"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> heute noch wohl manche Unvorſichtigkeit, dadurch<lb/> er ſeinen Vortheilen im Wege geſtanden, und<lb/> freut ſich mancher Mühe, dadurch er ſeine zeit-<lb/> lichen Umſtände mehr erhoben hat: und der<lb/> Freund der Tugend, berechnet die Summe ſei-<lb/> ner guten Thaten und ſeiner Fehltritte, wieder-<lb/> hohlt ſich die Freude über jene, und erneuert ſei-<lb/> ne Reue über dieſe. So denk ich, mit der grö-<lb/> ſten Zahl meiner Mitbrüder, deren jeden ſeine<lb/> Angelegenheiten beſchäftigen, auch an die meini-<lb/> gen zurück; und je einſamer und länger ich mich<lb/> dieſen Betrachtungen überlaße, deſto weiter ſeh<lb/> ich noch jenſeit des verfloßnen Jahres hinaus:<lb/> — Längſtverſtrichne Freuden oder Unglücksfälle;<lb/> fromme Empfindungen und Thaten, und Ver-<lb/> gehungen meiner Leidenſchaften; Tage und Be-<lb/> gebenheiten, welche mir in irgend einer Abſicht<lb/> merkwürdig waren; ſchweben noch aus den Zei-<lb/> ten der Kindheit und Jugend, heute wieder mei-<lb/> nem Gedächtniße vor: und es ſcheint mir, als<lb/> ſähe ich, von einer erreichten Höhe, auf die un-<lb/> ter mir liegenden Tage hinab — Aber, wie<lb/> enge iſt doch dieſer Geſichtskreis, gegen den be-<lb/> rechnet, den ich einſt werde unter mir liegen ſehn,<lb/> wenn auch ich nun, jene <hi rendition="#fr">lezte ſteilſte Höhe am<lb/> Ziel,</hi> zu welcher wir alle durch die Pforten des<lb/> <fw place="bottom" type="catch">To-</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [350/0402]
heute noch wohl manche Unvorſichtigkeit, dadurch
er ſeinen Vortheilen im Wege geſtanden, und
freut ſich mancher Mühe, dadurch er ſeine zeit-
lichen Umſtände mehr erhoben hat: und der
Freund der Tugend, berechnet die Summe ſei-
ner guten Thaten und ſeiner Fehltritte, wieder-
hohlt ſich die Freude über jene, und erneuert ſei-
ne Reue über dieſe. So denk ich, mit der grö-
ſten Zahl meiner Mitbrüder, deren jeden ſeine
Angelegenheiten beſchäftigen, auch an die meini-
gen zurück; und je einſamer und länger ich mich
dieſen Betrachtungen überlaße, deſto weiter ſeh
ich noch jenſeit des verfloßnen Jahres hinaus:
— Längſtverſtrichne Freuden oder Unglücksfälle;
fromme Empfindungen und Thaten, und Ver-
gehungen meiner Leidenſchaften; Tage und Be-
gebenheiten, welche mir in irgend einer Abſicht
merkwürdig waren; ſchweben noch aus den Zei-
ten der Kindheit und Jugend, heute wieder mei-
nem Gedächtniße vor: und es ſcheint mir, als
ſähe ich, von einer erreichten Höhe, auf die un-
ter mir liegenden Tage hinab — Aber, wie
enge iſt doch dieſer Geſichtskreis, gegen den be-
rechnet, den ich einſt werde unter mir liegen ſehn,
wenn auch ich nun, jene lezte ſteilſte Höhe am
Ziel, zu welcher wir alle durch die Pforten des
To-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/402 |
Zitationshilfe: | Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/402>, abgerufen am 16.02.2025. |