Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite



Todes hinanklimmen müßen; die Höhe, fern über
die Gräber, am Eingang in die Ewigkeit, er-
reicht habe? Heute ists nur das lezte Jahr,
oder vielleicht einige Tage und Stunden aus den
weiter entfernten; -- dann ists mein ganzes
Leben
in diesem Pilgerthale, vom ersten Augen-
blick meiner Geburt, bis zur lezten Minute des
Todes. -- Wie dunkel ist die Erinnerung, mit
welcher meine Seele heute, in diesem Leibe vom
Staube, noch von den nächsten sinnlichen Ein-
drucken am stärksten gerührt, in die genoßnen
Freuden, die überstandnen Trübsale, die müh-
sam vollbrachten Thaten zurückesieht: gegen je-
nes hellere Licht, in welchem sie auf jener Höhe,
meinem, von den Banden des Staubes ganz
entfeßeltem Geiste, alle ohne Ausnahme wieder
vorschweben werden? Was sind die flüchtigen
Gedanken, mit denen ich heute über das Vergan-
gene hinwegeile, um in der Ueberlegung des Ge-
genwärtigen, und der Aussicht in die Zukunft,
mich ganz zu verweilen: gegen jene unvergeßli-
che Erinnerung, die von diesem ganzen ersten
Leben, dort meiner Seele ewig gegenwärtig blei-
ben muß, wo jede kurze Freude, und jedes
flüchtige Leiden, und jede meiner kleinsten Ge-
danken und Thaten auf Erden, sich mir in ewi-

ge



Todes hinanklimmen müßen; die Höhe, fern über
die Gräber, am Eingang in die Ewigkeit, er-
reicht habe? Heute iſts nur das lezte Jahr,
oder vielleicht einige Tage und Stunden aus den
weiter entfernten; — dann iſts mein ganzes
Leben
in dieſem Pilgerthale, vom erſten Augen-
blick meiner Geburt, bis zur lezten Minute des
Todes. — Wie dunkel iſt die Erinnerung, mit
welcher meine Seele heute, in dieſem Leibe vom
Staube, noch von den nächſten ſinnlichen Ein-
drucken am ſtärkſten gerührt, in die genoßnen
Freuden, die überſtandnen Trübſale, die müh-
ſam vollbrachten Thaten zurückeſieht: gegen je-
nes hellere Licht, in welchem ſie auf jener Höhe,
meinem, von den Banden des Staubes ganz
entfeßeltem Geiſte, alle ohne Ausnahme wieder
vorſchweben werden? Was ſind die flüchtigen
Gedanken, mit denen ich heute über das Vergan-
gene hinwegeile, um in der Ueberlegung des Ge-
genwärtigen, und der Ausſicht in die Zukunft,
mich ganz zu verweilen: gegen jene unvergeßli-
che Erinnerung, die von dieſem ganzen erſten
Leben, dort meiner Seele ewig gegenwärtig blei-
ben muß, wo jede kurze Freude, und jedes
flüchtige Leiden, und jede meiner kleinſten Ge-
danken und Thaten auf Erden, ſich mir in ewi-

ge
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0403" n="351"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Todes hinanklimmen müßen; die <hi rendition="#fr">Höhe,</hi> fern über<lb/>
die Gräber, am <hi rendition="#fr">Eingang in die Ewigkeit,</hi> er-<lb/>
reicht habe? Heute i&#x017F;ts nur das <hi rendition="#fr">lezte Jahr,</hi><lb/>
oder vielleicht einige Tage und Stunden aus den<lb/>
weiter entfernten; &#x2014; dann i&#x017F;ts <hi rendition="#fr">mein ganzes<lb/>
Leben</hi> in die&#x017F;em Pilgerthale, vom er&#x017F;ten Augen-<lb/>
blick meiner Geburt, bis zur lezten Minute des<lb/>
Todes. &#x2014; Wie dunkel i&#x017F;t die Erinnerung, mit<lb/>
welcher meine Seele heute, in die&#x017F;em Leibe vom<lb/>
Staube, noch von den näch&#x017F;ten &#x017F;innlichen Ein-<lb/>
drucken am &#x017F;tärk&#x017F;ten gerührt, in die genoßnen<lb/>
Freuden, die über&#x017F;tandnen Trüb&#x017F;ale, die müh-<lb/>
&#x017F;am vollbrachten Thaten zurücke&#x017F;ieht: gegen je-<lb/>
nes hellere Licht, in welchem &#x017F;ie auf jener Höhe,<lb/>
meinem, von den Banden des Staubes ganz<lb/>
entfeßeltem Gei&#x017F;te, alle ohne Ausnahme wieder<lb/>
vor&#x017F;chweben werden? Was &#x017F;ind die flüchtigen<lb/>
Gedanken, mit denen ich heute über das Vergan-<lb/>
gene hinwegeile, um in der Ueberlegung des Ge-<lb/>
genwärtigen, und der Aus&#x017F;icht in die Zukunft,<lb/>
mich ganz zu verweilen: gegen jene unvergeßli-<lb/>
che Erinnerung, die von die&#x017F;em ganzen er&#x017F;ten<lb/>
Leben, dort meiner Seele ewig gegenwärtig blei-<lb/>
ben muß, wo jede kurze Freude, und jedes<lb/>
flüchtige Leiden, und jede meiner klein&#x017F;ten Ge-<lb/>
danken und Thaten auf Erden, &#x017F;ich mir in ewi-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ge</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[351/0403] Todes hinanklimmen müßen; die Höhe, fern über die Gräber, am Eingang in die Ewigkeit, er- reicht habe? Heute iſts nur das lezte Jahr, oder vielleicht einige Tage und Stunden aus den weiter entfernten; — dann iſts mein ganzes Leben in dieſem Pilgerthale, vom erſten Augen- blick meiner Geburt, bis zur lezten Minute des Todes. — Wie dunkel iſt die Erinnerung, mit welcher meine Seele heute, in dieſem Leibe vom Staube, noch von den nächſten ſinnlichen Ein- drucken am ſtärkſten gerührt, in die genoßnen Freuden, die überſtandnen Trübſale, die müh- ſam vollbrachten Thaten zurückeſieht: gegen je- nes hellere Licht, in welchem ſie auf jener Höhe, meinem, von den Banden des Staubes ganz entfeßeltem Geiſte, alle ohne Ausnahme wieder vorſchweben werden? Was ſind die flüchtigen Gedanken, mit denen ich heute über das Vergan- gene hinwegeile, um in der Ueberlegung des Ge- genwärtigen, und der Ausſicht in die Zukunft, mich ganz zu verweilen: gegen jene unvergeßli- che Erinnerung, die von dieſem ganzen erſten Leben, dort meiner Seele ewig gegenwärtig blei- ben muß, wo jede kurze Freude, und jedes flüchtige Leiden, und jede meiner kleinſten Ge- danken und Thaten auf Erden, ſich mir in ewi- ge

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/403
Zitationshilfe: Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/403>, abgerufen am 21.11.2024.