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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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I. Die psychischen Elemente.
die subjectiv größtmögliche Unterschiede der Empfindung sind,
objectiv photochemische Processe bedeuten, die sich neutralisiren.
Dass in Folge dieser Neutralisation die farblose Erregung ent-
steht, wird aber wieder am einfachsten unter der Voraussetzung
verständlich, dass sie von Anfang an jede farbige Erregung be-
gleitet und daher allein zurückbleibt, sobald entgegengesetzte far-
bige Erregungen einander aufheben. Diese Annahme einer rela-
tiven Unabhängigkeit der beiden photochemischen Processe der
farblosen und der farbigen Empfindung wird in schlagender Weise
durch die Existenz einer zuweilen angeborenen, zuweilen auch
durch pathologische Processe der Netzhaut erworbenen Abnor-
mität des Gesichtssinns, der totalen Farbenblindheit, be-
stätigt. Indem bei ihr entweder auf der ganzen Netzhaut oder
auf einzelnen Stellen derselben jede beliebige Lichtreizung als
reine Helligkeit ohne jede farbige Beimischung empfunden wird,
liegt darin der unumstößliche Beweis, dass farbige und farblose
Erregung von einander trennbare physiologische Processe sind.

Wenden wir die gleichen Gesichtspunkte auf den zweiten in
der Netzhaut stattfindenden Process, auf den der farbigen Er-
regung
an, so sind hier zunächst ebenfalls zwei Thatsachen
maßgebend. Die eine besteht darin, dass zwei um eine endliche
kleine Strecke von einander entfernte Farben eine Mischfarbe
ergeben, die der zwischen ihnen liegenden einfachen Farbe gleich
ist. Diese Thatsache weist darauf hin, dass die Farbenerregung
ein Vorgang ist, der sich nicht stetig, wie etwa die Tonerregung,
sondern der sich in kleinen Stufen mit dem physikalischen Reize
verändert, und zwar dergestalt, dass diese Veränderung im Roth
und Violett in größeren Stufen vor sich geht als im Grün, weil
sich hier schon bei der Mischung ziemlich nahe gelegener Farben
Complementärwirkungen geltend machen. Eine solche stufenweise
Veränderung des Processes entspricht aber durchaus der che-
mischen
Natur desselben, da sich chemische Zersetzungen wie
Verbindungen immer auf Gruppen von Atomen oder Molecülen
beziehen müssen. Die zweite Thatsache besteht darin, dass be-
stimmte, einem gewissen größeren Reizunterschiede entsprechende
Farben gleichzeitig subjectiv, als Gegenfarben, die Bedeutung
maximaler Unterschiede, und objectiv, als Complementärfarben,
die Bedeutung sich neutralisirender Processe haben. Chemische
Processe können sich aber nur neutralisiren, wenn sie irgendwie

I. Die psychischen Elemente.
die subjectiv größtmögliche Unterschiede der Empfindung sind,
objectiv photochemische Processe bedeuten, die sich neutralisiren.
Dass in Folge dieser Neutralisation die farblose Erregung ent-
steht, wird aber wieder am einfachsten unter der Voraussetzung
verständlich, dass sie von Anfang an jede farbige Erregung be-
gleitet und daher allein zurückbleibt, sobald entgegengesetzte far-
bige Erregungen einander aufheben. Diese Annahme einer rela-
tiven Unabhängigkeit der beiden photochemischen Processe der
farblosen und der farbigen Empfindung wird in schlagender Weise
durch die Existenz einer zuweilen angeborenen, zuweilen auch
durch pathologische Processe der Netzhaut erworbenen Abnor-
mität des Gesichtssinns, der totalen Farbenblindheit, be-
stätigt. Indem bei ihr entweder auf der ganzen Netzhaut oder
auf einzelnen Stellen derselben jede beliebige Lichtreizung als
reine Helligkeit ohne jede farbige Beimischung empfunden wird,
liegt darin der unumstößliche Beweis, dass farbige und farblose
Erregung von einander trennbare physiologische Processe sind.

Wenden wir die gleichen Gesichtspunkte auf den zweiten in
der Netzhaut stattfindenden Process, auf den der farbigen Er-
regung
an, so sind hier zunächst ebenfalls zwei Thatsachen
maßgebend. Die eine besteht darin, dass zwei um eine endliche
kleine Strecke von einander entfernte Farben eine Mischfarbe
ergeben, die der zwischen ihnen liegenden einfachen Farbe gleich
ist. Diese Thatsache weist darauf hin, dass die Farbenerregung
ein Vorgang ist, der sich nicht stetig, wie etwa die Tonerregung,
sondern der sich in kleinen Stufen mit dem physikalischen Reize
verändert, und zwar dergestalt, dass diese Veränderung im Roth
und Violett in größeren Stufen vor sich geht als im Grün, weil
sich hier schon bei der Mischung ziemlich nahe gelegener Farben
Complementärwirkungen geltend machen. Eine solche stufenweise
Veränderung des Processes entspricht aber durchaus der che-
mischen
Natur desselben, da sich chemische Zersetzungen wie
Verbindungen immer auf Gruppen von Atomen oder Molecülen
beziehen müssen. Die zweite Thatsache besteht darin, dass be-
stimmte, einem gewissen größeren Reizunterschiede entsprechende
Farben gleichzeitig subjectiv, als Gegenfarben, die Bedeutung
maximaler Unterschiede, und objectiv, als Complementärfarben,
die Bedeutung sich neutralisirender Processe haben. Chemische
Processe können sich aber nur neutralisiren, wenn sie irgendwie

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[84/0100] I. Die psychischen Elemente. die subjectiv größtmögliche Unterschiede der Empfindung sind, objectiv photochemische Processe bedeuten, die sich neutralisiren. Dass in Folge dieser Neutralisation die farblose Erregung ent- steht, wird aber wieder am einfachsten unter der Voraussetzung verständlich, dass sie von Anfang an jede farbige Erregung be- gleitet und daher allein zurückbleibt, sobald entgegengesetzte far- bige Erregungen einander aufheben. Diese Annahme einer rela- tiven Unabhängigkeit der beiden photochemischen Processe der farblosen und der farbigen Empfindung wird in schlagender Weise durch die Existenz einer zuweilen angeborenen, zuweilen auch durch pathologische Processe der Netzhaut erworbenen Abnor- mität des Gesichtssinns, der totalen Farbenblindheit, be- stätigt. Indem bei ihr entweder auf der ganzen Netzhaut oder auf einzelnen Stellen derselben jede beliebige Lichtreizung als reine Helligkeit ohne jede farbige Beimischung empfunden wird, liegt darin der unumstößliche Beweis, dass farbige und farblose Erregung von einander trennbare physiologische Processe sind. Wenden wir die gleichen Gesichtspunkte auf den zweiten in der Netzhaut stattfindenden Process, auf den der farbigen Er- regung an, so sind hier zunächst ebenfalls zwei Thatsachen maßgebend. Die eine besteht darin, dass zwei um eine endliche kleine Strecke von einander entfernte Farben eine Mischfarbe ergeben, die der zwischen ihnen liegenden einfachen Farbe gleich ist. Diese Thatsache weist darauf hin, dass die Farbenerregung ein Vorgang ist, der sich nicht stetig, wie etwa die Tonerregung, sondern der sich in kleinen Stufen mit dem physikalischen Reize verändert, und zwar dergestalt, dass diese Veränderung im Roth und Violett in größeren Stufen vor sich geht als im Grün, weil sich hier schon bei der Mischung ziemlich nahe gelegener Farben Complementärwirkungen geltend machen. Eine solche stufenweise Veränderung des Processes entspricht aber durchaus der che- mischen Natur desselben, da sich chemische Zersetzungen wie Verbindungen immer auf Gruppen von Atomen oder Molecülen beziehen müssen. Die zweite Thatsache besteht darin, dass be- stimmte, einem gewissen größeren Reizunterschiede entsprechende Farben gleichzeitig subjectiv, als Gegenfarben, die Bedeutung maximaler Unterschiede, und objectiv, als Complementärfarben, die Bedeutung sich neutralisirender Processe haben. Chemische Processe können sich aber nur neutralisiren, wenn sie irgendwie

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/100>, abgerufen am 09.11.2024.