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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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I. Die psychischen Elemente.
Annahme von drei Grundempfindungen, Roth, Grün und Violett,
aus deren wechselnden Mischungen alle Lichtempfindungen, auch
die farblosen, hervorgehen sollen (Young-Helmholtz'sche Hypo-
these). Oder man geht von der psychologisch unhaltbaren An-
nahme aus, die Farbenbenennungen seien nicht aus dem Einfluss
bestimmter äußerer Objecte, sondern aus der realen Bedeutung
der entsprechenden Empfindungen hervorgegangen (s. oben S. 75),
und nimmt demnach an, vier Grundfarben, nämlich die beiden
Gegensatzpaare Roth und Grün, Gelb und Blau, seien die Sub-
strate der Farbenempfindungen, denen man dann als ein ähnliches
Gegensatzpaar für die reinen Helligkeitsempfindungen Schwarz und
Weiß gegenüberstellt, während alle andern Lichtempfindungen,
wie Grau, Orange, Violett und dgl. ihrer subjectiven wie objec-
tiven Bedeutung nach Mischempfindungen sein sollen (Hering'-
sche Hypothese). Zur Unterstützung der ersten wie der zweiten
dieser Hypothesen hat man sich meist auf die nicht selten vor-
kommenden Fälle partieller Farbenblindheit berufen. Die
Anhänger der drei Grundfarben behaupteten, alle diese Fälle
seien entweder auf den Mangel der rothen oder der grünen
Grundempfindung, zuweilen wohl auch auf den Mangel dieser
beiden zurückzuführen. Die Anhänger der vier Grundfarben
nahmen an, die partielle Farbenblindheit beziehe sich stets auf je
zwei als Gegensätze zusammengehörige Grundfarben, sei also ent-
weder Rothgrünblindheit oder Gelbblaublindheit. Eine unbefangene
Prüfung der Farbenblinden bestätigt keine dieser Behauptungen.
Ist die Dreifarbentheorie nicht im Stande die totale Farbenblindheit
zu erklären, so widersprechen der Vierfarbentheorie die Fälle
reiner Roth- und reiner Grünblindheit; und beiden Hypothesen
widerstreiten schließlich die unzweifelhaft vorkommenden Fälle,
in denen vorzugsweise solche Theile des Spektrums, die keiner
der drei oder vier angenommenen Grundfarben entsprechen, farb-
los gesehen werden. Das einzige, was sich nach dem Stand
unserer heutigen Kenntnisse aussagen lässt ist also, dass jede
einfache Lichtempfindung physiologisch auf der Verbindung
zweier photochemischer Processe beruht, eines monochro-
matischen
, der sich wieder aus einer bei größerer Lichtstärke
überwiegenden Zersetzung und aus einer bei schwächerem Licht
vorwaltenden Restitution zusammensetzt, und eines chro-
matischen
, welcher sich derart stufenweise verändert, dass die

I. Die psychischen Elemente.
Annahme von drei Grundempfindungen, Roth, Grün und Violett,
aus deren wechselnden Mischungen alle Lichtempfindungen, auch
die farblosen, hervorgehen sollen (Young-Helmholtz’sche Hypo-
these). Oder man geht von der psychologisch unhaltbaren An-
nahme aus, die Farbenbenennungen seien nicht aus dem Einfluss
bestimmter äußerer Objecte, sondern aus der realen Bedeutung
der entsprechenden Empfindungen hervorgegangen (s. oben S. 75),
und nimmt demnach an, vier Grundfarben, nämlich die beiden
Gegensatzpaare Roth und Grün, Gelb und Blau, seien die Sub-
strate der Farbenempfindungen, denen man dann als ein ähnliches
Gegensatzpaar für die reinen Helligkeitsempfindungen Schwarz und
Weiß gegenüberstellt, während alle andern Lichtempfindungen,
wie Grau, Orange, Violett und dgl. ihrer subjectiven wie objec-
tiven Bedeutung nach Mischempfindungen sein sollen (Hering’-
sche Hypothese). Zur Unterstützung der ersten wie der zweiten
dieser Hypothesen hat man sich meist auf die nicht selten vor-
kommenden Fälle partieller Farbenblindheit berufen. Die
Anhänger der drei Grundfarben behaupteten, alle diese Fälle
seien entweder auf den Mangel der rothen oder der grünen
Grundempfindung, zuweilen wohl auch auf den Mangel dieser
beiden zurückzuführen. Die Anhänger der vier Grundfarben
nahmen an, die partielle Farbenblindheit beziehe sich stets auf je
zwei als Gegensätze zusammengehörige Grundfarben, sei also ent-
weder Rothgrünblindheit oder Gelbblaublindheit. Eine unbefangene
Prüfung der Farbenblinden bestätigt keine dieser Behauptungen.
Ist die Dreifarbentheorie nicht im Stande die totale Farbenblindheit
zu erklären, so widersprechen der Vierfarbentheorie die Fälle
reiner Roth- und reiner Grünblindheit; und beiden Hypothesen
widerstreiten schließlich die unzweifelhaft vorkommenden Fälle,
in denen vorzugsweise solche Theile des Spektrums, die keiner
der drei oder vier angenommenen Grundfarben entsprechen, farb-
los gesehen werden. Das einzige, was sich nach dem Stand
unserer heutigen Kenntnisse aussagen lässt ist also, dass jede
einfache Lichtempfindung physiologisch auf der Verbindung
zweier photochemischer Processe beruht, eines monochro-
matischen
, der sich wieder aus einer bei größerer Lichtstärke
überwiegenden Zersetzung und aus einer bei schwächerem Licht
vorwaltenden Restitution zusammensetzt, und eines chro-
matischen
, welcher sich derart stufenweise verändert, dass die

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[86/0102] I. Die psychischen Elemente. Annahme von drei Grundempfindungen, Roth, Grün und Violett, aus deren wechselnden Mischungen alle Lichtempfindungen, auch die farblosen, hervorgehen sollen (Young-Helmholtz’sche Hypo- these). Oder man geht von der psychologisch unhaltbaren An- nahme aus, die Farbenbenennungen seien nicht aus dem Einfluss bestimmter äußerer Objecte, sondern aus der realen Bedeutung der entsprechenden Empfindungen hervorgegangen (s. oben S. 75), und nimmt demnach an, vier Grundfarben, nämlich die beiden Gegensatzpaare Roth und Grün, Gelb und Blau, seien die Sub- strate der Farbenempfindungen, denen man dann als ein ähnliches Gegensatzpaar für die reinen Helligkeitsempfindungen Schwarz und Weiß gegenüberstellt, während alle andern Lichtempfindungen, wie Grau, Orange, Violett und dgl. ihrer subjectiven wie objec- tiven Bedeutung nach Mischempfindungen sein sollen (Hering’- sche Hypothese). Zur Unterstützung der ersten wie der zweiten dieser Hypothesen hat man sich meist auf die nicht selten vor- kommenden Fälle partieller Farbenblindheit berufen. Die Anhänger der drei Grundfarben behaupteten, alle diese Fälle seien entweder auf den Mangel der rothen oder der grünen Grundempfindung, zuweilen wohl auch auf den Mangel dieser beiden zurückzuführen. Die Anhänger der vier Grundfarben nahmen an, die partielle Farbenblindheit beziehe sich stets auf je zwei als Gegensätze zusammengehörige Grundfarben, sei also ent- weder Rothgrünblindheit oder Gelbblaublindheit. Eine unbefangene Prüfung der Farbenblinden bestätigt keine dieser Behauptungen. Ist die Dreifarbentheorie nicht im Stande die totale Farbenblindheit zu erklären, so widersprechen der Vierfarbentheorie die Fälle reiner Roth- und reiner Grünblindheit; und beiden Hypothesen widerstreiten schließlich die unzweifelhaft vorkommenden Fälle, in denen vorzugsweise solche Theile des Spektrums, die keiner der drei oder vier angenommenen Grundfarben entsprechen, farb- los gesehen werden. Das einzige, was sich nach dem Stand unserer heutigen Kenntnisse aussagen lässt ist also, dass jede einfache Lichtempfindung physiologisch auf der Verbindung zweier photochemischer Processe beruht, eines monochro- matischen, der sich wieder aus einer bei größerer Lichtstärke überwiegenden Zersetzung und aus einer bei schwächerem Licht vorwaltenden Restitution zusammensetzt, und eines chro- matischen, welcher sich derart stufenweise verändert, dass die

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/102>, abgerufen am 21.11.2024.