Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Die psychischen Elemente.
Empfindungen, insofern auch solche Gefühle, die wir nur in
Verbindung mit mehr oder minder zusammengesetzten Vor-
stellungsprocessen beobachten, den Charakter der Einfachheit
besitzen (S. 41). So ist z. B. das Gefühl der Tonharmonie
ebenso gut einfach wie das an einen einzelnen Ton ge-
bundene Gefühl. Denn sind gleich mehrere Tonempfindungen
erforderlich, um eine Tonharmonie hervorzubringen, und ist
daher diese ihrem Empfindungsgehalte nach ein zusammen-
gesetztes Gebilde, so sind doch die Gefühlsqualitäten be-
stimmter harmonischer Zusammenklänge so verschiedenartig
von den an die einzelnen Töne gebundenen Gefühlen, dass
jene ebenso gut wie diese subjectiv vollkommen unzerleg-
bare Einheiten darstellen. Nur darin besteht ein wesentlicher
Unterschied, dass die Gefühle, die einfachen Empfindungen
entsprechen, leicht nach der nämlichen Methode der Ab-
straction, deren wir uns zur Feststellung der einfachen
Empfindungen bedienen (S. 45), aus dem Zusammenhang
unserer Erfahrung isolirt werden können. Das einfache
Gefühl dagegen, das an irgend ein zusammengesetztes Vor-
stellungsgebilde gebunden ist, können wir niemals von den
Gefühlen sondern, die als subjective Complemente der Em-
pfindungen in jenes Gebilde eingehen. So ist es z. B.
unmöglich, das Harmoniegefühl des Accords c e g von den
einfachen Gefühlen der Töne c, e und g loszulösen. Diese
mögen hinter jenem zurücktreten, da sie sich mit ihm, wie
wir später (§ 9, 3a) sehen werden, stets zu einem einheit-
lichen Totalgefühl verbinden; aber eliminiren lassen sie
sich natürlich niemals.

2. Das mit einer einfachen Empfindung verbundene
Gefühl pflegt man als sinnliches Gefühl oder auch als
Gefühlston der Empfindung zu bezeichnen. Beide Aus-
drücke sind in entgegengesetztem Sinne der Missdeutung fähig:
der erste, weil man geneigt ist, unter dem "sinnlichen Gefühl"

I. Die psychischen Elemente.
Empfindungen, insofern auch solche Gefühle, die wir nur in
Verbindung mit mehr oder minder zusammengesetzten Vor-
stellungsprocessen beobachten, den Charakter der Einfachheit
besitzen (S. 41). So ist z. B. das Gefühl der Tonharmonie
ebenso gut einfach wie das an einen einzelnen Ton ge-
bundene Gefühl. Denn sind gleich mehrere Tonempfindungen
erforderlich, um eine Tonharmonie hervorzubringen, und ist
daher diese ihrem Empfindungsgehalte nach ein zusammen-
gesetztes Gebilde, so sind doch die Gefühlsqualitäten be-
stimmter harmonischer Zusammenklänge so verschiedenartig
von den an die einzelnen Töne gebundenen Gefühlen, dass
jene ebenso gut wie diese subjectiv vollkommen unzerleg-
bare Einheiten darstellen. Nur darin besteht ein wesentlicher
Unterschied, dass die Gefühle, die einfachen Empfindungen
entsprechen, leicht nach der nämlichen Methode der Ab-
straction, deren wir uns zur Feststellung der einfachen
Empfindungen bedienen (S. 45), aus dem Zusammenhang
unserer Erfahrung isolirt werden können. Das einfache
Gefühl dagegen, das an irgend ein zusammengesetztes Vor-
stellungsgebilde gebunden ist, können wir niemals von den
Gefühlen sondern, die als subjective Complemente der Em-
pfindungen in jenes Gebilde eingehen. So ist es z. B.
unmöglich, das Harmoniegefühl des Accords c e g von den
einfachen Gefühlen der Töne c, e und g loszulösen. Diese
mögen hinter jenem zurücktreten, da sie sich mit ihm, wie
wir später (§ 9, 3a) sehen werden, stets zu einem einheit-
lichen Totalgefühl verbinden; aber eliminiren lassen sie
sich natürlich niemals.

2. Das mit einer einfachen Empfindung verbundene
Gefühl pflegt man als sinnliches Gefühl oder auch als
Gefühlston der Empfindung zu bezeichnen. Beide Aus-
drücke sind in entgegengesetztem Sinne der Missdeutung fähig:
der erste, weil man geneigt ist, unter dem »sinnlichen Gefühl«

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0104" n="88"/><fw place="top" type="header">I. Die psychischen Elemente.</fw><lb/>
Empfindungen, insofern auch solche Gefühle, die wir nur in<lb/>
Verbindung mit mehr oder minder zusammengesetzten Vor-<lb/>
stellungsprocessen beobachten, den Charakter der Einfachheit<lb/>
besitzen (S. 41). So ist z. B. das Gefühl der Tonharmonie<lb/>
ebenso gut einfach wie das an einen einzelnen Ton ge-<lb/>
bundene Gefühl. Denn sind gleich mehrere Tonempfindungen<lb/>
erforderlich, um eine Tonharmonie hervorzubringen, und ist<lb/>
daher diese ihrem Empfindungsgehalte nach ein zusammen-<lb/>
gesetztes Gebilde, so sind doch die Gefühlsqualitäten be-<lb/>
stimmter harmonischer Zusammenklänge so verschiedenartig<lb/>
von den an die einzelnen Töne gebundenen Gefühlen, dass<lb/>
jene ebenso gut wie diese subjectiv vollkommen unzerleg-<lb/>
bare Einheiten darstellen. Nur darin besteht ein wesentlicher<lb/>
Unterschied, dass die Gefühle, die einfachen Empfindungen<lb/>
entsprechen, leicht nach der nämlichen Methode der Ab-<lb/>
straction, deren wir uns zur Feststellung der einfachen<lb/>
Empfindungen bedienen (S. 45), aus dem Zusammenhang<lb/>
unserer Erfahrung isolirt werden können. Das einfache<lb/>
Gefühl dagegen, das an irgend ein zusammengesetztes Vor-<lb/>
stellungsgebilde gebunden ist, können wir niemals von den<lb/>
Gefühlen sondern, die als subjective Complemente der Em-<lb/>
pfindungen in jenes Gebilde eingehen. So ist es z. B.<lb/>
unmöglich, das Harmoniegefühl des Accords <hi rendition="#i">c e g</hi> von den<lb/>
einfachen Gefühlen der Töne <hi rendition="#i">c, e</hi> und <hi rendition="#i">g</hi> loszulösen. Diese<lb/>
mögen hinter jenem zurücktreten, da sie sich mit ihm, wie<lb/>
wir später (§ 9, 3a) sehen werden, stets zu einem einheit-<lb/>
lichen <hi rendition="#g">Totalgefühl</hi> verbinden; aber eliminiren lassen sie<lb/>
sich natürlich niemals.</p><lb/>
          <p>2. Das mit einer einfachen Empfindung verbundene<lb/>
Gefühl pflegt man als <hi rendition="#g">sinnliches Gefühl</hi> oder auch als<lb/><hi rendition="#g">Gefühlston der Empfindung</hi> zu bezeichnen. Beide Aus-<lb/>
drücke sind in entgegengesetztem Sinne der Missdeutung fähig:<lb/>
der erste, weil man geneigt ist, unter dem »sinnlichen Gefühl«<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[88/0104] I. Die psychischen Elemente. Empfindungen, insofern auch solche Gefühle, die wir nur in Verbindung mit mehr oder minder zusammengesetzten Vor- stellungsprocessen beobachten, den Charakter der Einfachheit besitzen (S. 41). So ist z. B. das Gefühl der Tonharmonie ebenso gut einfach wie das an einen einzelnen Ton ge- bundene Gefühl. Denn sind gleich mehrere Tonempfindungen erforderlich, um eine Tonharmonie hervorzubringen, und ist daher diese ihrem Empfindungsgehalte nach ein zusammen- gesetztes Gebilde, so sind doch die Gefühlsqualitäten be- stimmter harmonischer Zusammenklänge so verschiedenartig von den an die einzelnen Töne gebundenen Gefühlen, dass jene ebenso gut wie diese subjectiv vollkommen unzerleg- bare Einheiten darstellen. Nur darin besteht ein wesentlicher Unterschied, dass die Gefühle, die einfachen Empfindungen entsprechen, leicht nach der nämlichen Methode der Ab- straction, deren wir uns zur Feststellung der einfachen Empfindungen bedienen (S. 45), aus dem Zusammenhang unserer Erfahrung isolirt werden können. Das einfache Gefühl dagegen, das an irgend ein zusammengesetztes Vor- stellungsgebilde gebunden ist, können wir niemals von den Gefühlen sondern, die als subjective Complemente der Em- pfindungen in jenes Gebilde eingehen. So ist es z. B. unmöglich, das Harmoniegefühl des Accords c e g von den einfachen Gefühlen der Töne c, e und g loszulösen. Diese mögen hinter jenem zurücktreten, da sie sich mit ihm, wie wir später (§ 9, 3a) sehen werden, stets zu einem einheit- lichen Totalgefühl verbinden; aber eliminiren lassen sie sich natürlich niemals. 2. Das mit einer einfachen Empfindung verbundene Gefühl pflegt man als sinnliches Gefühl oder auch als Gefühlston der Empfindung zu bezeichnen. Beide Aus- drücke sind in entgegengesetztem Sinne der Missdeutung fähig: der erste, weil man geneigt ist, unter dem »sinnlichen Gefühl«

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/104
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/104>, abgerufen am 09.11.2024.