Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite
II. Die psychischen Gebilde.

Diese locale Färbung kann man als das Localzeichen
der Empfindung bezeichnen. Dasselbe ändert sich an den
verschiedenen Hautstellen mit sehr verschiedener Geschwin-
digkeit: sehr schnell z. B. an der Zungenspitze, den Finger-
spitzen, den Lippen, langsam an den größeren Flächen der
Glieder und des Rumpfes. Ein Maß für die Schnelligkeit
dieser Aenderung der Localzeichen kann man erhalten, wenn
man zwei Eindrücke nahe bei einander auf eine Hautstelle
einwirken lässt. So lange dann die Distanz der Eindrücke
in der Region qualitativ ununterscheidbarer Localzeichen
liegt, werden dieselben als ein einziger Eindruck wahrge-
nommen, während, sobald jene Grenze überschritten wird,
die Eindrücke räumlich getrennt werden. Diese kleinste
eben unterscheidbare Distanz zweier Eindrücke nennt man
die Raumschwelle des Tastsinns. Sie variirt von 1 bis
2 mm (Zungen- und Fingerspitze) bis zu 68 mm (Rücken,
Oberarm, Oberschenkel). An den Stellen der Druckpunkte
(S. 56) können übrigens bei günstiger Anwendung der Reize
auch noch kleinere Distanzen wahrgenommen werden. Ueber-
dies ist die Raumschwelle von den Zuständen des Tastorgans
und von den Einflüssen der Uebung abhängig. In Folge der
ersteren ist sie z. B. bei Kindern, bei denen offenbar die die
Localzeichen bedingenden Structurunterschiede in kleineren
Entfernungen merklich werden, kleiner als bei Erwachsenen;
in Folge der Uebung ist sie bei Blinden, namentlich an den
von ihnen vorzugsweise zum Tasten benutzten Fingerspitzen,
kleiner als bei Sehenden.

5. Die Localisation der Tasteindrücke und mit ihr die
räumliche Ordnung einer Mehrheit solcher beruht, wie die
oben geschilderte Mitwirkung der Gesichtsvorstellungen der
betasteten Körpertheile lehrt, beim sehenden Menschen
weder auf einer ursprünglichen Raumqualität der Haut-
punkte noch auch auf einer primären raumbildenden Function

II. Die psychischen Gebilde.

Diese locale Färbung kann man als das Localzeichen
der Empfindung bezeichnen. Dasselbe ändert sich an den
verschiedenen Hautstellen mit sehr verschiedener Geschwin-
digkeit: sehr schnell z. B. an der Zungenspitze, den Finger-
spitzen, den Lippen, langsam an den größeren Flächen der
Glieder und des Rumpfes. Ein Maß für die Schnelligkeit
dieser Aenderung der Localzeichen kann man erhalten, wenn
man zwei Eindrücke nahe bei einander auf eine Hautstelle
einwirken lässt. So lange dann die Distanz der Eindrücke
in der Region qualitativ ununterscheidbarer Localzeichen
liegt, werden dieselben als ein einziger Eindruck wahrge-
nommen, während, sobald jene Grenze überschritten wird,
die Eindrücke räumlich getrennt werden. Diese kleinste
eben unterscheidbare Distanz zweier Eindrücke nennt man
die Raumschwelle des Tastsinns. Sie variirt von 1 bis
2 mm (Zungen- und Fingerspitze) bis zu 68 mm (Rücken,
Oberarm, Oberschenkel). An den Stellen der Druckpunkte
(S. 56) können übrigens bei günstiger Anwendung der Reize
auch noch kleinere Distanzen wahrgenommen werden. Ueber-
dies ist die Raumschwelle von den Zuständen des Tastorgans
und von den Einflüssen der Uebung abhängig. In Folge der
ersteren ist sie z. B. bei Kindern, bei denen offenbar die die
Localzeichen bedingenden Structurunterschiede in kleineren
Entfernungen merklich werden, kleiner als bei Erwachsenen;
in Folge der Uebung ist sie bei Blinden, namentlich an den
von ihnen vorzugsweise zum Tasten benutzten Fingerspitzen,
kleiner als bei Sehenden.

5. Die Localisation der Tasteindrücke und mit ihr die
räumliche Ordnung einer Mehrheit solcher beruht, wie die
oben geschilderte Mitwirkung der Gesichtsvorstellungen der
betasteten Körpertheile lehrt, beim sehenden Menschen
weder auf einer ursprünglichen Raumqualität der Haut-
punkte noch auch auf einer primären raumbildenden Function

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0140" n="124"/>
            <fw place="top" type="header">II. Die psychischen Gebilde.</fw><lb/>
            <p>Diese locale Färbung kann man als das <hi rendition="#g">Localzeichen</hi><lb/>
der Empfindung bezeichnen. Dasselbe ändert sich an den<lb/>
verschiedenen Hautstellen mit sehr verschiedener Geschwin-<lb/>
digkeit: sehr schnell z. B. an der Zungenspitze, den Finger-<lb/>
spitzen, den Lippen, langsam an den größeren Flächen der<lb/>
Glieder und des Rumpfes. Ein Maß für die Schnelligkeit<lb/>
dieser Aenderung der Localzeichen kann man erhalten, wenn<lb/>
man <hi rendition="#g">zwei</hi> Eindrücke nahe bei einander auf eine Hautstelle<lb/>
einwirken lässt. So lange dann die Distanz der Eindrücke<lb/>
in der Region qualitativ ununterscheidbarer Localzeichen<lb/>
liegt, werden dieselben als ein einziger Eindruck wahrge-<lb/>
nommen, während, sobald jene Grenze überschritten wird,<lb/>
die Eindrücke räumlich getrennt werden. Diese kleinste<lb/>
eben unterscheidbare Distanz zweier Eindrücke nennt man<lb/>
die <hi rendition="#g">Raumschwelle des Tastsinns</hi>. Sie variirt von 1 bis<lb/>
2 mm (Zungen- und Fingerspitze) bis zu 68 mm (Rücken,<lb/>
Oberarm, Oberschenkel). An den Stellen der Druckpunkte<lb/>
(S. 56) können übrigens bei günstiger Anwendung der Reize<lb/>
auch noch kleinere Distanzen wahrgenommen werden. Ueber-<lb/>
dies ist die Raumschwelle von den Zuständen des Tastorgans<lb/>
und von den Einflüssen der Uebung abhängig. In Folge der<lb/>
ersteren ist sie z. B. bei Kindern, bei denen offenbar die die<lb/>
Localzeichen bedingenden Structurunterschiede in kleineren<lb/>
Entfernungen merklich werden, kleiner als bei Erwachsenen;<lb/>
in Folge der Uebung ist sie bei Blinden, namentlich an den<lb/>
von ihnen vorzugsweise zum Tasten benutzten Fingerspitzen,<lb/>
kleiner als bei Sehenden.</p><lb/>
            <p>5. Die Localisation der Tasteindrücke und mit ihr die<lb/>
räumliche Ordnung einer Mehrheit solcher beruht, wie die<lb/>
oben geschilderte Mitwirkung der Gesichtsvorstellungen der<lb/>
betasteten Körpertheile lehrt, beim sehenden Menschen<lb/>
weder auf einer ursprünglichen Raumqualität der Haut-<lb/>
punkte noch auch auf einer primären raumbildenden Function<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[124/0140] II. Die psychischen Gebilde. Diese locale Färbung kann man als das Localzeichen der Empfindung bezeichnen. Dasselbe ändert sich an den verschiedenen Hautstellen mit sehr verschiedener Geschwin- digkeit: sehr schnell z. B. an der Zungenspitze, den Finger- spitzen, den Lippen, langsam an den größeren Flächen der Glieder und des Rumpfes. Ein Maß für die Schnelligkeit dieser Aenderung der Localzeichen kann man erhalten, wenn man zwei Eindrücke nahe bei einander auf eine Hautstelle einwirken lässt. So lange dann die Distanz der Eindrücke in der Region qualitativ ununterscheidbarer Localzeichen liegt, werden dieselben als ein einziger Eindruck wahrge- nommen, während, sobald jene Grenze überschritten wird, die Eindrücke räumlich getrennt werden. Diese kleinste eben unterscheidbare Distanz zweier Eindrücke nennt man die Raumschwelle des Tastsinns. Sie variirt von 1 bis 2 mm (Zungen- und Fingerspitze) bis zu 68 mm (Rücken, Oberarm, Oberschenkel). An den Stellen der Druckpunkte (S. 56) können übrigens bei günstiger Anwendung der Reize auch noch kleinere Distanzen wahrgenommen werden. Ueber- dies ist die Raumschwelle von den Zuständen des Tastorgans und von den Einflüssen der Uebung abhängig. In Folge der ersteren ist sie z. B. bei Kindern, bei denen offenbar die die Localzeichen bedingenden Structurunterschiede in kleineren Entfernungen merklich werden, kleiner als bei Erwachsenen; in Folge der Uebung ist sie bei Blinden, namentlich an den von ihnen vorzugsweise zum Tasten benutzten Fingerspitzen, kleiner als bei Sehenden. 5. Die Localisation der Tasteindrücke und mit ihr die räumliche Ordnung einer Mehrheit solcher beruht, wie die oben geschilderte Mitwirkung der Gesichtsvorstellungen der betasteten Körpertheile lehrt, beim sehenden Menschen weder auf einer ursprünglichen Raumqualität der Haut- punkte noch auch auf einer primären raumbildenden Function

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/140
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/140>, abgerufen am 09.11.2024.