Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Die psychischen Gebilde.
wie bei den Blinden, eine unmittelbare Function der Tast-
und Bewegungsempfindungen (siehe unten 6). In der Regel
zeigt aber die genauere Beobachtung, dass man sich von der
Lage und Distanz der Eindrücke nur Rechenschaft geben
kann, indem man sich das unbestimmte Gesichtsbild der
berührten Körperstelle deutlicher zu machen sucht.

6. Diese für den Sehenden geltenden Bedingungen
ändern sich nun wesentlich beim Blinden und namentlich
beim Blindgeborenen oder in frühester Lebenszeit Erblin-
deten. Der Blinde bewahrt sich zwar noch sehr lange Zeit
Erinnerungsbilder der ihm geläufigen Gesichtsobjecte, und
so bleiben bei ihm auch die räumlichen Tastvorstellungen
immer noch in einem gewissen Grade Producte einer Ver-
schmelzung zwischen Tastempfindungen und Gesichtsbildern.
Da ihm aber die Hülfe einer fortan sich wiederholenden Er-
neuerung der Gesichtsvorstellungen abgeht, so zieht er zu-
gleich in wachsendem Maße Bewegungen zu Hülfe, indem er,
von einem Tasteindruck zum andern übergehend, in der in den
Gelenken und Muskeln erzeugten Bewegungsempfindung
(S. 54), die ein Maß der Größe der ausgeführten Bewegung ist,
zugleich ein Maß gewinnt für die Distanz, in der sich die
Tasteindrücke von einander befinden. Diese Hülfe, bei dem
Erblindeten zu den allmählich erblassenden Gesichtsbildern
hinzutretend und sie theilweise ersetzend, ist aber für den
Blindgeborenen von Anfang an die einzige, durch die er
sich eine Vorstellung von den wechselseitigen Lage- und
Entfernungsverhältnissen einzelner Eindrücke verschaffen
kann. Demzufolge beobachtet man bei solchen Personen
eine fortwährende Bewegung der Tastorgane, besonders der
tastenden Finger, über die Objecte hin, bei deren Auffassung
ihnen überdies die geschärfte Aufmerksamkeit auf die Tast-
empfindungen und die größere Uebung in der Unterschei-
dung derselben zu statten kommen. Immerhin macht sich

II. Die psychischen Gebilde.
wie bei den Blinden, eine unmittelbare Function der Tast-
und Bewegungsempfindungen (siehe unten 6). In der Regel
zeigt aber die genauere Beobachtung, dass man sich von der
Lage und Distanz der Eindrücke nur Rechenschaft geben
kann, indem man sich das unbestimmte Gesichtsbild der
berührten Körperstelle deutlicher zu machen sucht.

6. Diese für den Sehenden geltenden Bedingungen
ändern sich nun wesentlich beim Blinden und namentlich
beim Blindgeborenen oder in frühester Lebenszeit Erblin-
deten. Der Blinde bewahrt sich zwar noch sehr lange Zeit
Erinnerungsbilder der ihm geläufigen Gesichtsobjecte, und
so bleiben bei ihm auch die räumlichen Tastvorstellungen
immer noch in einem gewissen Grade Producte einer Ver-
schmelzung zwischen Tastempfindungen und Gesichtsbildern.
Da ihm aber die Hülfe einer fortan sich wiederholenden Er-
neuerung der Gesichtsvorstellungen abgeht, so zieht er zu-
gleich in wachsendem Maße Bewegungen zu Hülfe, indem er,
von einem Tasteindruck zum andern übergehend, in der in den
Gelenken und Muskeln erzeugten Bewegungsempfindung
(S. 54), die ein Maß der Größe der ausgeführten Bewegung ist,
zugleich ein Maß gewinnt für die Distanz, in der sich die
Tasteindrücke von einander befinden. Diese Hülfe, bei dem
Erblindeten zu den allmählich erblassenden Gesichtsbildern
hinzutretend und sie theilweise ersetzend, ist aber für den
Blindgeborenen von Anfang an die einzige, durch die er
sich eine Vorstellung von den wechselseitigen Lage- und
Entfernungsverhältnissen einzelner Eindrücke verschaffen
kann. Demzufolge beobachtet man bei solchen Personen
eine fortwährende Bewegung der Tastorgane, besonders der
tastenden Finger, über die Objecte hin, bei deren Auffassung
ihnen überdies die geschärfte Aufmerksamkeit auf die Tast-
empfindungen und die größere Uebung in der Unterschei-
dung derselben zu statten kommen. Immerhin macht sich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0142" n="126"/><fw place="top" type="header">II. Die psychischen Gebilde.</fw><lb/>
wie bei den Blinden, eine unmittelbare Function der Tast-<lb/>
und Bewegungsempfindungen (siehe unten 6). In der Regel<lb/>
zeigt aber die genauere Beobachtung, dass man sich von der<lb/>
Lage und Distanz der Eindrücke nur Rechenschaft geben<lb/>
kann, indem man sich das unbestimmte Gesichtsbild der<lb/>
berührten Körperstelle deutlicher zu machen sucht.</p><lb/>
            <p>6. Diese für den Sehenden geltenden Bedingungen<lb/>
ändern sich nun wesentlich beim <hi rendition="#g">Blinden</hi> und namentlich<lb/>
beim Blindgeborenen oder in frühester Lebenszeit Erblin-<lb/>
deten. Der Blinde bewahrt sich zwar noch sehr lange Zeit<lb/>
Erinnerungsbilder der ihm geläufigen Gesichtsobjecte, und<lb/>
so bleiben bei ihm auch die räumlichen Tastvorstellungen<lb/>
immer noch in einem gewissen Grade Producte einer Ver-<lb/>
schmelzung zwischen Tastempfindungen und Gesichtsbildern.<lb/>
Da ihm aber die Hülfe einer fortan sich wiederholenden Er-<lb/>
neuerung der Gesichtsvorstellungen abgeht, so zieht er zu-<lb/>
gleich in wachsendem Maße Bewegungen zu Hülfe, indem er,<lb/>
von einem Tasteindruck zum andern übergehend, in der in den<lb/>
Gelenken und Muskeln erzeugten <hi rendition="#g">Bewegungsempfindung</hi><lb/>
(S. 54), die ein Maß der Größe der ausgeführten Bewegung ist,<lb/>
zugleich ein Maß gewinnt für die Distanz, in der sich die<lb/>
Tasteindrücke von einander befinden. Diese Hülfe, bei dem<lb/>
Erblindeten zu den allmählich erblassenden Gesichtsbildern<lb/>
hinzutretend und sie theilweise ersetzend, ist aber für den<lb/>
Blindgeborenen von Anfang an die einzige, durch die er<lb/>
sich eine Vorstellung von den wechselseitigen Lage- und<lb/>
Entfernungsverhältnissen einzelner Eindrücke verschaffen<lb/>
kann. Demzufolge beobachtet man bei solchen Personen<lb/>
eine fortwährende Bewegung der Tastorgane, besonders der<lb/>
tastenden Finger, über die Objecte hin, bei deren Auffassung<lb/>
ihnen überdies die geschärfte Aufmerksamkeit auf die Tast-<lb/>
empfindungen und die größere Uebung in der Unterschei-<lb/>
dung derselben zu statten kommen. Immerhin macht sich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[126/0142] II. Die psychischen Gebilde. wie bei den Blinden, eine unmittelbare Function der Tast- und Bewegungsempfindungen (siehe unten 6). In der Regel zeigt aber die genauere Beobachtung, dass man sich von der Lage und Distanz der Eindrücke nur Rechenschaft geben kann, indem man sich das unbestimmte Gesichtsbild der berührten Körperstelle deutlicher zu machen sucht. 6. Diese für den Sehenden geltenden Bedingungen ändern sich nun wesentlich beim Blinden und namentlich beim Blindgeborenen oder in frühester Lebenszeit Erblin- deten. Der Blinde bewahrt sich zwar noch sehr lange Zeit Erinnerungsbilder der ihm geläufigen Gesichtsobjecte, und so bleiben bei ihm auch die räumlichen Tastvorstellungen immer noch in einem gewissen Grade Producte einer Ver- schmelzung zwischen Tastempfindungen und Gesichtsbildern. Da ihm aber die Hülfe einer fortan sich wiederholenden Er- neuerung der Gesichtsvorstellungen abgeht, so zieht er zu- gleich in wachsendem Maße Bewegungen zu Hülfe, indem er, von einem Tasteindruck zum andern übergehend, in der in den Gelenken und Muskeln erzeugten Bewegungsempfindung (S. 54), die ein Maß der Größe der ausgeführten Bewegung ist, zugleich ein Maß gewinnt für die Distanz, in der sich die Tasteindrücke von einander befinden. Diese Hülfe, bei dem Erblindeten zu den allmählich erblassenden Gesichtsbildern hinzutretend und sie theilweise ersetzend, ist aber für den Blindgeborenen von Anfang an die einzige, durch die er sich eine Vorstellung von den wechselseitigen Lage- und Entfernungsverhältnissen einzelner Eindrücke verschaffen kann. Demzufolge beobachtet man bei solchen Personen eine fortwährende Bewegung der Tastorgane, besonders der tastenden Finger, über die Objecte hin, bei deren Auffassung ihnen überdies die geschärfte Aufmerksamkeit auf die Tast- empfindungen und die größere Uebung in der Unterschei- dung derselben zu statten kommen. Immerhin macht sich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/142
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/142>, abgerufen am 21.11.2024.