Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.§ 10. Die räumlichen Vorstellungen. die tiefere Entwickelungsstufe dieses Sinnes gegenüber demGesichtssinn darin geltend, dass die Auffassung stetig aus- gedehnter Begrenzungslinien und Flächen hier viel unvoll- kommener ist als die nahehin punktförmiger Eindrücke in verschiedenen Anordnungen. Einen augenfälligen Beleg hierfür bildet die Thatsache, dass man sich bei der Blindenschrift genöthigt gesehen hat, für die einzelnen Buchstaben künstliche Zeichen einzuführen, die in verschie- denen Combinationen erhabener Punkte bestehen. So ist z. B. in der gewöhnlich gebrauchten (Braille'schen) Blinden- schrift ein Punkt das Zeichen für A, 2 Punkte horizontal neben einander das für B, 2 Punkte vertical über einander für C u. s. w. Mit 6 Punkten im Maximum reicht man für alle Buchstaben aus; dabei müssen nur die Punkte so weit von einander entfernt sein, dass sie mit der Spitze des Zeigefingers noch als getrennt wahrgenommen werden können. Für die Entwicklung der Raumvorstellungen des Blinden ist nun die Art, wie diese Schrift gelesen wird, bezeichnend. In der Regel werden dazu die beiden Zeige- finger der rechten und der linken Hand benutzt. Der rechte Finger geht voraus und fasst eine Gruppe von Punkten simultan auf (synthetisches Tasten), der linke Finger folgt etwas langsamer nach und fasst die einzelnen Punkte succesiv auf (analysirendes Tasten). Beide Eindrücke, der simultane und der successive, werden aber mit einander verbunden und auf das nämliche Object bezogen. Dieses Verfahren zeigt deutlich, dass beim Blinden ebenso wenig wie beim Sehen- den die räumliche Unterscheidung der Tasteindrücke unmittel- bar mit der Einwirkung derselben auf das Tastorgan gegeben ist, sondern dass hier die Bewegungen, mittelst deren der dem analysirenden Tasten dienende Finger die einzelnen Strecken durchläuft, eine ähnliche Rolle spielen, wie sie bei dem Sehenden den begleitenden Gesichtsvorstellungen zukommt. § 10. Die räumlichen Vorstellungen. die tiefere Entwickelungsstufe dieses Sinnes gegenüber demGesichtssinn darin geltend, dass die Auffassung stetig aus- gedehnter Begrenzungslinien und Flächen hier viel unvoll- kommener ist als die nahehin punktförmiger Eindrücke in verschiedenen Anordnungen. Einen augenfälligen Beleg hierfür bildet die Thatsache, dass man sich bei der Blindenschrift genöthigt gesehen hat, für die einzelnen Buchstaben künstliche Zeichen einzuführen, die in verschie- denen Combinationen erhabener Punkte bestehen. So ist z. B. in der gewöhnlich gebrauchten (Braille’schen) Blinden- schrift ein Punkt das Zeichen für A, 2 Punkte horizontal neben einander das für B, 2 Punkte vertical über einander für C u. s. w. Mit 6 Punkten im Maximum reicht man für alle Buchstaben aus; dabei müssen nur die Punkte so weit von einander entfernt sein, dass sie mit der Spitze des Zeigefingers noch als getrennt wahrgenommen werden können. Für die Entwicklung der Raumvorstellungen des Blinden ist nun die Art, wie diese Schrift gelesen wird, bezeichnend. In der Regel werden dazu die beiden Zeige- finger der rechten und der linken Hand benutzt. Der rechte Finger geht voraus und fasst eine Gruppe von Punkten simultan auf (synthetisches Tasten), der linke Finger folgt etwas langsamer nach und fasst die einzelnen Punkte succesiv auf (analysirendes Tasten). Beide Eindrücke, der simultane und der successive, werden aber mit einander verbunden und auf das nämliche Object bezogen. Dieses Verfahren zeigt deutlich, dass beim Blinden ebenso wenig wie beim Sehen- den die räumliche Unterscheidung der Tasteindrücke unmittel- bar mit der Einwirkung derselben auf das Tastorgan gegeben ist, sondern dass hier die Bewegungen, mittelst deren der dem analysirenden Tasten dienende Finger die einzelnen Strecken durchläuft, eine ähnliche Rolle spielen, wie sie bei dem Sehenden den begleitenden Gesichtsvorstellungen zukommt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0143" n="127"/><fw place="top" type="header">§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.</fw><lb/> die tiefere Entwickelungsstufe dieses Sinnes gegenüber dem<lb/> Gesichtssinn darin geltend, dass die Auffassung stetig aus-<lb/> gedehnter Begrenzungslinien und Flächen hier viel unvoll-<lb/> kommener ist als die nahehin punktförmiger Eindrücke in<lb/> verschiedenen Anordnungen. 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§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.
die tiefere Entwickelungsstufe dieses Sinnes gegenüber dem
Gesichtssinn darin geltend, dass die Auffassung stetig aus-
gedehnter Begrenzungslinien und Flächen hier viel unvoll-
kommener ist als die nahehin punktförmiger Eindrücke in
verschiedenen Anordnungen. Einen augenfälligen Beleg
hierfür bildet die Thatsache, dass man sich bei der
Blindenschrift genöthigt gesehen hat, für die einzelnen
Buchstaben künstliche Zeichen einzuführen, die in verschie-
denen Combinationen erhabener Punkte bestehen. So ist
z. B. in der gewöhnlich gebrauchten (Braille’schen) Blinden-
schrift ein Punkt das Zeichen für A, 2 Punkte horizontal
neben einander das für B, 2 Punkte vertical über einander
für C u. s. w. Mit 6 Punkten im Maximum reicht man für
alle Buchstaben aus; dabei müssen nur die Punkte so weit
von einander entfernt sein, dass sie mit der Spitze des
Zeigefingers noch als getrennt wahrgenommen werden
können. Für die Entwicklung der Raumvorstellungen des
Blinden ist nun die Art, wie diese Schrift gelesen wird,
bezeichnend. In der Regel werden dazu die beiden Zeige-
finger der rechten und der linken Hand benutzt. Der rechte
Finger geht voraus und fasst eine Gruppe von Punkten
simultan auf (synthetisches Tasten), der linke Finger folgt
etwas langsamer nach und fasst die einzelnen Punkte succesiv
auf (analysirendes Tasten). Beide Eindrücke, der simultane
und der successive, werden aber mit einander verbunden und
auf das nämliche Object bezogen. Dieses Verfahren zeigt
deutlich, dass beim Blinden ebenso wenig wie beim Sehen-
den die räumliche Unterscheidung der Tasteindrücke unmittel-
bar mit der Einwirkung derselben auf das Tastorgan gegeben
ist, sondern dass hier die Bewegungen, mittelst deren der dem
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durchläuft, eine ähnliche Rolle spielen, wie sie bei dem
Sehenden den begleitenden Gesichtsvorstellungen zukommt.
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