Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.
Wissen von den in jedem Augenblick vorhandenen Lagen
und Bewegungen der Körperorgane im Raume zuschreibt.

11. Auf Grund dieser Verhältnisse beim Sehenden lässt
sich nun auch die Entstehungsweise der Vorstellungen eigener
Bewegung beim Blindgeborenen verstehen. An Stelle der
Verschmelzung mit dem Gesichtsbild des Körpertheils muss
hier eine solche der Bewegungsempfindungen mit den Local-
zeichen wirksam werden, während zugleich äußere Tast-
empfindungen unterstützend hinzutreten. Beim Blinden
scheinen daher diese letzteren bei der Orientirung über die
eigene Bewegung im Raume eine weit größere Rolle zu
spielen als beim Sehenden. Seine Vorstellungen über die
eigene Bewegung bleiben höchst unsicher, so lange er
ihnen nicht durch die Betastung äußerer Objecte zu Hülfe
kommt. Bei dieser Hülfe kommt ihm aber die größere
Uebung des äußeren Tastsinns und die geschärfte Aufmerk-
samkeit auf denselben zu statten. Einen Beleg hierfür bildet
der so genannte "Fernsinn der Blinden". Er besteht in der
Fähigkeit, widerstandleistende Gegenstände, z. B. eine nahe
Wand, aus einiger Entfernung ohne directe Betastung der-
selben wahrzunehmen. Es lässt sich nun experimentell nach-
weisen, dass sich dieser Fernsinn aus zwei Factoren zu-
sammensetzt: erstens aus einer sehr schwachen Tasterre-
gung der Stirnhaut durch den Luftwiderstand, und zweitens
aus der Aenderung des Schalls der Schritte. Hierbei wirkt
die letztere als ein Signal, welches die Aufmerksamkeit
hinreichend schärft, damit jene schwachen Tasterregungen
wahrgenommen werden können. Der "Fernsinn" wird daher
unwirksam, wenn man entweder die Tasterregungen durch
ein umgebundenes Tuch von der Stirn abhält, oder wenn
man die Schritte unhörbar macht.

12. Neben den Vorstellungen von den Lagen und Be-
wegungen der einzelnen Körpertheile besitzen wir auch noch

§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.
Wissen von den in jedem Augenblick vorhandenen Lagen
und Bewegungen der Körperorgane im Raume zuschreibt.

11. Auf Grund dieser Verhältnisse beim Sehenden lässt
sich nun auch die Entstehungsweise der Vorstellungen eigener
Bewegung beim Blindgeborenen verstehen. An Stelle der
Verschmelzung mit dem Gesichtsbild des Körpertheils muss
hier eine solche der Bewegungsempfindungen mit den Local-
zeichen wirksam werden, während zugleich äußere Tast-
empfindungen unterstützend hinzutreten. Beim Blinden
scheinen daher diese letzteren bei der Orientirung über die
eigene Bewegung im Raume eine weit größere Rolle zu
spielen als beim Sehenden. Seine Vorstellungen über die
eigene Bewegung bleiben höchst unsicher, so lange er
ihnen nicht durch die Betastung äußerer Objecte zu Hülfe
kommt. Bei dieser Hülfe kommt ihm aber die größere
Uebung des äußeren Tastsinns und die geschärfte Aufmerk-
samkeit auf denselben zu statten. Einen Beleg hierfür bildet
der so genannte »Fernsinn der Blinden«. Er besteht in der
Fähigkeit, widerstandleistende Gegenstände, z. B. eine nahe
Wand, aus einiger Entfernung ohne directe Betastung der-
selben wahrzunehmen. Es lässt sich nun experimentell nach-
weisen, dass sich dieser Fernsinn aus zwei Factoren zu-
sammensetzt: erstens aus einer sehr schwachen Tasterre-
gung der Stirnhaut durch den Luftwiderstand, und zweitens
aus der Aenderung des Schalls der Schritte. Hierbei wirkt
die letztere als ein Signal, welches die Aufmerksamkeit
hinreichend schärft, damit jene schwachen Tasterregungen
wahrgenommen werden können. Der »Fernsinn« wird daher
unwirksam, wenn man entweder die Tasterregungen durch
ein umgebundenes Tuch von der Stirn abhält, oder wenn
man die Schritte unhörbar macht.

12. Neben den Vorstellungen von den Lagen und Be-
wegungen der einzelnen Körpertheile besitzen wir auch noch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0149" n="133"/><fw place="top" type="header">§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.</fw><lb/>
Wissen von den in jedem Augenblick vorhandenen Lagen<lb/>
und Bewegungen der Körperorgane im Raume zuschreibt.</p><lb/>
            <p>11. Auf Grund dieser Verhältnisse beim Sehenden lässt<lb/>
sich nun auch die Entstehungsweise der Vorstellungen eigener<lb/>
Bewegung beim Blindgeborenen verstehen. An Stelle der<lb/>
Verschmelzung mit dem Gesichtsbild des Körpertheils muss<lb/>
hier eine solche der Bewegungsempfindungen mit den Local-<lb/>
zeichen wirksam werden, während zugleich äußere Tast-<lb/>
empfindungen unterstützend hinzutreten. Beim Blinden<lb/>
scheinen daher diese letzteren bei der Orientirung über die<lb/>
eigene Bewegung im Raume eine weit größere Rolle zu<lb/>
spielen als beim Sehenden. Seine Vorstellungen über die<lb/>
eigene Bewegung bleiben höchst unsicher, so lange er<lb/>
ihnen nicht durch die Betastung äußerer Objecte zu Hülfe<lb/>
kommt. Bei dieser Hülfe kommt ihm aber die größere<lb/>
Uebung des äußeren Tastsinns und die geschärfte Aufmerk-<lb/>
samkeit auf denselben zu statten. Einen Beleg hierfür bildet<lb/>
der so genannte »Fernsinn der Blinden«. Er besteht in der<lb/>
Fähigkeit, widerstandleistende Gegenstände, z. B. eine nahe<lb/>
Wand, aus einiger Entfernung ohne directe Betastung der-<lb/>
selben wahrzunehmen. Es lässt sich nun experimentell nach-<lb/>
weisen, dass sich dieser Fernsinn aus <hi rendition="#g">zwei</hi> Factoren zu-<lb/>
sammensetzt: erstens aus einer sehr schwachen Tasterre-<lb/>
gung der Stirnhaut durch den Luftwiderstand, und zweitens<lb/>
aus der Aenderung des Schalls der Schritte. Hierbei wirkt<lb/>
die letztere als ein Signal, welches die Aufmerksamkeit<lb/>
hinreichend schärft, damit jene schwachen Tasterregungen<lb/>
wahrgenommen werden können. Der »Fernsinn« wird daher<lb/>
unwirksam, wenn man entweder die Tasterregungen durch<lb/>
ein umgebundenes Tuch von der Stirn abhält, oder wenn<lb/>
man die Schritte unhörbar macht.</p><lb/>
            <p>12. Neben den Vorstellungen von den Lagen und Be-<lb/>
wegungen der einzelnen Körpertheile besitzen wir auch noch<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[133/0149] § 10. Die räumlichen Vorstellungen. Wissen von den in jedem Augenblick vorhandenen Lagen und Bewegungen der Körperorgane im Raume zuschreibt. 11. Auf Grund dieser Verhältnisse beim Sehenden lässt sich nun auch die Entstehungsweise der Vorstellungen eigener Bewegung beim Blindgeborenen verstehen. An Stelle der Verschmelzung mit dem Gesichtsbild des Körpertheils muss hier eine solche der Bewegungsempfindungen mit den Local- zeichen wirksam werden, während zugleich äußere Tast- empfindungen unterstützend hinzutreten. Beim Blinden scheinen daher diese letzteren bei der Orientirung über die eigene Bewegung im Raume eine weit größere Rolle zu spielen als beim Sehenden. Seine Vorstellungen über die eigene Bewegung bleiben höchst unsicher, so lange er ihnen nicht durch die Betastung äußerer Objecte zu Hülfe kommt. Bei dieser Hülfe kommt ihm aber die größere Uebung des äußeren Tastsinns und die geschärfte Aufmerk- samkeit auf denselben zu statten. Einen Beleg hierfür bildet der so genannte »Fernsinn der Blinden«. Er besteht in der Fähigkeit, widerstandleistende Gegenstände, z. B. eine nahe Wand, aus einiger Entfernung ohne directe Betastung der- selben wahrzunehmen. Es lässt sich nun experimentell nach- weisen, dass sich dieser Fernsinn aus zwei Factoren zu- sammensetzt: erstens aus einer sehr schwachen Tasterre- gung der Stirnhaut durch den Luftwiderstand, und zweitens aus der Aenderung des Schalls der Schritte. Hierbei wirkt die letztere als ein Signal, welches die Aufmerksamkeit hinreichend schärft, damit jene schwachen Tasterregungen wahrgenommen werden können. Der »Fernsinn« wird daher unwirksam, wenn man entweder die Tasterregungen durch ein umgebundenes Tuch von der Stirn abhält, oder wenn man die Schritte unhörbar macht. 12. Neben den Vorstellungen von den Lagen und Be- wegungen der einzelnen Körpertheile besitzen wir auch noch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/149
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/149>, abgerufen am 14.05.2024.