So ist jedes Auge in Bezug auf die Richtung ver- ticaler Linien im Sehfeld der Täuschung unterworfen, dass eine mit ihrem oberen Ende um 1--3° nach auswärts geneigte Linie vertical, und dass daher eine in Wirklich- keit verticale Linie mit ihrem oberen Ende nach innen ge- neigt zu sein scheint. Da diese Täuschung für jedes Auge eine entgegengesetzte Richtung hat, so verschwindet sie im zweiäugigen Sehen. Sie lässt sich offenbar auf die soeben bemerkte Thatsache zurückführen, dass sich die Abwärtsbe- wegungen der Augen unwillkürlich mit einer Zunahme, die Aufwärtsbewegungen mit einer Abnahme der Convergenz verbinden. Diese von uns nicht bemerkte Abweichung der Bewegung von der verticalen Richtung wird aber auf eine im entgegengesetzten Sinne stattfindende Abweichung der Objecte bezogen.
Wie diese regelmäßige Richtungstäuschung, so lässt sich eine nicht minder regelmäßige Größentäuschung bei der Vergleichung verschieden gerichteter Strecken im Sehfeld mit größter Wahrscheinlichkeit auf jene Asymmetrie der Muskelanordnung zurückführen, die in der Anpassung der Functionen des Sehens an die gewöhnliche Lage der Objecte im Raume begründet ist. Diese Größentäuschung besteht darin, dass wir verticale gerade Linien durchschnitt- lich etwa um 1/6 zu groß schätzen gegenüber gleich großen horizontalen; daher uns z. B. ein Quadrat wie ein Rechteck mit kleinerer Basis erscheint, während umgekehrt bei einem nach dem Augenmaß gezeichneten Quadrate regelmäßig die Höhe zu klein gezeichnet wird. Diese Täuschung erklärt sich, wenn man erwägt, dass in Folge der oben erwähnten Bevorzugung der Convergenzstellungen bei der Auf- und Abwärtsbewegung des Auges ein complicirterer Muskel- mechanismus thätig ist als bei der Aus- und Einwärts- bewegung desselben. So gut aber bei theilweise gelähmtem
Wundt, Psychologie. 10
§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.
So ist jedes Auge in Bezug auf die Richtung ver- ticaler Linien im Sehfeld der Täuschung unterworfen, dass eine mit ihrem oberen Ende um 1—3° nach auswärts geneigte Linie vertical, und dass daher eine in Wirklich- keit verticale Linie mit ihrem oberen Ende nach innen ge- neigt zu sein scheint. Da diese Täuschung für jedes Auge eine entgegengesetzte Richtung hat, so verschwindet sie im zweiäugigen Sehen. Sie lässt sich offenbar auf die soeben bemerkte Thatsache zurückführen, dass sich die Abwärtsbe- wegungen der Augen unwillkürlich mit einer Zunahme, die Aufwärtsbewegungen mit einer Abnahme der Convergenz verbinden. Diese von uns nicht bemerkte Abweichung der Bewegung von der verticalen Richtung wird aber auf eine im entgegengesetzten Sinne stattfindende Abweichung der Objecte bezogen.
Wie diese regelmäßige Richtungstäuschung, so lässt sich eine nicht minder regelmäßige Größentäuschung bei der Vergleichung verschieden gerichteter Strecken im Sehfeld mit größter Wahrscheinlichkeit auf jene Asymmetrie der Muskelanordnung zurückführen, die in der Anpassung der Functionen des Sehens an die gewöhnliche Lage der Objecte im Raume begründet ist. Diese Größentäuschung besteht darin, dass wir verticale gerade Linien durchschnitt- lich etwa um ⅙ zu groß schätzen gegenüber gleich großen horizontalen; daher uns z. B. ein Quadrat wie ein Rechteck mit kleinerer Basis erscheint, während umgekehrt bei einem nach dem Augenmaß gezeichneten Quadrate regelmäßig die Höhe zu klein gezeichnet wird. Diese Täuschung erklärt sich, wenn man erwägt, dass in Folge der oben erwähnten Bevorzugung der Convergenzstellungen bei der Auf- und Abwärtsbewegung des Auges ein complicirterer Muskel- mechanismus thätig ist als bei der Aus- und Einwärts- bewegung desselben. So gut aber bei theilweise gelähmtem
Wundt, Psychologie. 10
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0161"n="145"/><fwplace="top"type="header">§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.</fw><lb/><p>So ist jedes Auge in Bezug auf die <hirendition="#g">Richtung ver-<lb/>
ticaler Linien im Sehfeld</hi> der Täuschung unterworfen,<lb/>
dass eine mit ihrem oberen Ende um 1—3° nach auswärts<lb/>
geneigte Linie vertical, und dass daher eine in Wirklich-<lb/>
keit verticale Linie mit ihrem oberen Ende nach innen ge-<lb/>
neigt zu sein scheint. Da diese Täuschung für jedes Auge<lb/>
eine entgegengesetzte Richtung hat, so verschwindet sie im<lb/>
zweiäugigen Sehen. Sie lässt sich offenbar auf die soeben<lb/>
bemerkte Thatsache zurückführen, dass sich die Abwärtsbe-<lb/>
wegungen der Augen unwillkürlich mit einer Zunahme, die<lb/>
Aufwärtsbewegungen mit einer Abnahme der Convergenz<lb/>
verbinden. Diese von uns nicht bemerkte Abweichung der<lb/>
Bewegung von der verticalen Richtung wird aber auf eine<lb/>
im entgegengesetzten Sinne stattfindende Abweichung der<lb/>
Objecte bezogen.</p><lb/><p>Wie diese regelmäßige Richtungstäuschung, so lässt<lb/>
sich eine nicht minder regelmäßige <hirendition="#g">Größentäuschung</hi><lb/>
bei der Vergleichung verschieden gerichteter Strecken im<lb/>
Sehfeld mit größter Wahrscheinlichkeit auf jene Asymmetrie<lb/>
der Muskelanordnung zurückführen, die in der Anpassung<lb/>
der Functionen des Sehens an die gewöhnliche Lage der<lb/>
Objecte im Raume begründet ist. Diese Größentäuschung<lb/>
besteht darin, dass wir verticale gerade Linien durchschnitt-<lb/>
lich etwa um ⅙ zu groß schätzen gegenüber gleich großen<lb/>
horizontalen; daher uns z. B. ein Quadrat wie ein Rechteck<lb/>
mit kleinerer Basis erscheint, während umgekehrt bei einem<lb/>
nach dem Augenmaß gezeichneten Quadrate regelmäßig die<lb/>
Höhe zu klein gezeichnet wird. Diese Täuschung erklärt<lb/>
sich, wenn man erwägt, dass in Folge der oben erwähnten<lb/>
Bevorzugung der Convergenzstellungen bei der Auf- und<lb/>
Abwärtsbewegung des Auges ein complicirterer Muskel-<lb/>
mechanismus thätig ist als bei der Aus- und Einwärts-<lb/>
bewegung desselben. So gut aber bei theilweise gelähmtem<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Wundt</hi>, Psychologie. 10</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[145/0161]
§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.
So ist jedes Auge in Bezug auf die Richtung ver-
ticaler Linien im Sehfeld der Täuschung unterworfen,
dass eine mit ihrem oberen Ende um 1—3° nach auswärts
geneigte Linie vertical, und dass daher eine in Wirklich-
keit verticale Linie mit ihrem oberen Ende nach innen ge-
neigt zu sein scheint. Da diese Täuschung für jedes Auge
eine entgegengesetzte Richtung hat, so verschwindet sie im
zweiäugigen Sehen. Sie lässt sich offenbar auf die soeben
bemerkte Thatsache zurückführen, dass sich die Abwärtsbe-
wegungen der Augen unwillkürlich mit einer Zunahme, die
Aufwärtsbewegungen mit einer Abnahme der Convergenz
verbinden. Diese von uns nicht bemerkte Abweichung der
Bewegung von der verticalen Richtung wird aber auf eine
im entgegengesetzten Sinne stattfindende Abweichung der
Objecte bezogen.
Wie diese regelmäßige Richtungstäuschung, so lässt
sich eine nicht minder regelmäßige Größentäuschung
bei der Vergleichung verschieden gerichteter Strecken im
Sehfeld mit größter Wahrscheinlichkeit auf jene Asymmetrie
der Muskelanordnung zurückführen, die in der Anpassung
der Functionen des Sehens an die gewöhnliche Lage der
Objecte im Raume begründet ist. Diese Größentäuschung
besteht darin, dass wir verticale gerade Linien durchschnitt-
lich etwa um ⅙ zu groß schätzen gegenüber gleich großen
horizontalen; daher uns z. B. ein Quadrat wie ein Rechteck
mit kleinerer Basis erscheint, während umgekehrt bei einem
nach dem Augenmaß gezeichneten Quadrate regelmäßig die
Höhe zu klein gezeichnet wird. Diese Täuschung erklärt
sich, wenn man erwägt, dass in Folge der oben erwähnten
Bevorzugung der Convergenzstellungen bei der Auf- und
Abwärtsbewegung des Auges ein complicirterer Muskel-
mechanismus thätig ist als bei der Aus- und Einwärts-
bewegung desselben. So gut aber bei theilweise gelähmtem
Wundt, Psychologie. 10
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/161>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.