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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 11. Die zeitlichen Vorstellungen.
§ 11. Die zeitlichen Vorstellungen.

1. Alle unsere Vorstellungen sind räumlich und zeitlich
zugleich. Aber wie die Bedingungen zur räumlichen Ord-
nung der Eindrücke ursprünglich nur bestimmten Sinnes-
gebieten, dem Tast- und dem Gesichtssinn, eigenthümlich
sind, von denen aus dann erst die Beziehung zum Raum
auf alle andern Sinnesempfindungen übertragen wird, so
sind es auch bloß zwei Empfindungsgebiete, nämlich die
bei den Tastbewegungen entstehenden inneren Tastempfin-
dungen und die Gehörsempfindungen, die vorzugsweise die
Bildung zeitlicher Vorstellungen vermitteln. Immerhin tritt
schon hier ein charakteristischer Unterschied zwischen den
räumlichen und den zeitlichen Vorstellungen darin hervor,
dass bei jenen überhaupt bloß die genannten Sinne eine
selbständige räumliche Ordnung erzeugen können, während
hier in den zwei bevorzugten Sinnesgebieten nur die Be-
dingungen zur Entstehung zeitlicher Ordnungen günstigere
sind, ohne dass jedoch solche Bedingungen bei irgend wel-
chen andern Empfindungen fehlen. Dies weist darauf hin,
dass die psychologischen Grundlagen der Zeitvorstellung
allgemeinerer Art sind, und dass sie nicht erst durch
die besonderen Organisationsbedingungen einzelner Sinnes-
apparate bestimmt werden. Dem entspricht es auch, dass
wir selbst dann, wenn wir bei irgend einem Zusammen-
hang psychischer Vorgänge von den in denselben eingehen-
den Vorstellungsgebilden ganz absehen und bloß auf die
subjectiven Begleiterscheinungen derselben, die Gefühle,
Affecte u. s. w., Rücksicht nehmen, solchen durch Abstraction
isolirten Gemüthsbewegungen genau dieselben zeitlichen
Eigenschaften zuschreiben wie den Vorstellungen. In der
Philosophie hat man hieraus meistens den Schluss gezogen,
die Zeit sei die "allgemeinere Anschauungsform", d. h. es

§ 11. Die zeitlichen Vorstellungen.
§ 11. Die zeitlichen Vorstellungen.

1. Alle unsere Vorstellungen sind räumlich und zeitlich
zugleich. Aber wie die Bedingungen zur räumlichen Ord-
nung der Eindrücke ursprünglich nur bestimmten Sinnes-
gebieten, dem Tast- und dem Gesichtssinn, eigenthümlich
sind, von denen aus dann erst die Beziehung zum Raum
auf alle andern Sinnesempfindungen übertragen wird, so
sind es auch bloß zwei Empfindungsgebiete, nämlich die
bei den Tastbewegungen entstehenden inneren Tastempfin-
dungen und die Gehörsempfindungen, die vorzugsweise die
Bildung zeitlicher Vorstellungen vermitteln. Immerhin tritt
schon hier ein charakteristischer Unterschied zwischen den
räumlichen und den zeitlichen Vorstellungen darin hervor,
dass bei jenen überhaupt bloß die genannten Sinne eine
selbständige räumliche Ordnung erzeugen können, während
hier in den zwei bevorzugten Sinnesgebieten nur die Be-
dingungen zur Entstehung zeitlicher Ordnungen günstigere
sind, ohne dass jedoch solche Bedingungen bei irgend wel-
chen andern Empfindungen fehlen. Dies weist darauf hin,
dass die psychologischen Grundlagen der Zeitvorstellung
allgemeinerer Art sind, und dass sie nicht erst durch
die besonderen Organisationsbedingungen einzelner Sinnes-
apparate bestimmt werden. Dem entspricht es auch, dass
wir selbst dann, wenn wir bei irgend einem Zusammen-
hang psychischer Vorgänge von den in denselben eingehen-
den Vorstellungsgebilden ganz absehen und bloß auf die
subjectiven Begleiterscheinungen derselben, die Gefühle,
Affecte u. s. w., Rücksicht nehmen, solchen durch Abstraction
isolirten Gemüthsbewegungen genau dieselben zeitlichen
Eigenschaften zuschreiben wie den Vorstellungen. In der
Philosophie hat man hieraus meistens den Schluss gezogen,
die Zeit sei die »allgemeinere Anschauungsform«, d. h. es

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[167/0183] § 11. Die zeitlichen Vorstellungen. § 11. Die zeitlichen Vorstellungen. 1. Alle unsere Vorstellungen sind räumlich und zeitlich zugleich. Aber wie die Bedingungen zur räumlichen Ord- nung der Eindrücke ursprünglich nur bestimmten Sinnes- gebieten, dem Tast- und dem Gesichtssinn, eigenthümlich sind, von denen aus dann erst die Beziehung zum Raum auf alle andern Sinnesempfindungen übertragen wird, so sind es auch bloß zwei Empfindungsgebiete, nämlich die bei den Tastbewegungen entstehenden inneren Tastempfin- dungen und die Gehörsempfindungen, die vorzugsweise die Bildung zeitlicher Vorstellungen vermitteln. Immerhin tritt schon hier ein charakteristischer Unterschied zwischen den räumlichen und den zeitlichen Vorstellungen darin hervor, dass bei jenen überhaupt bloß die genannten Sinne eine selbständige räumliche Ordnung erzeugen können, während hier in den zwei bevorzugten Sinnesgebieten nur die Be- dingungen zur Entstehung zeitlicher Ordnungen günstigere sind, ohne dass jedoch solche Bedingungen bei irgend wel- chen andern Empfindungen fehlen. Dies weist darauf hin, dass die psychologischen Grundlagen der Zeitvorstellung allgemeinerer Art sind, und dass sie nicht erst durch die besonderen Organisationsbedingungen einzelner Sinnes- apparate bestimmt werden. Dem entspricht es auch, dass wir selbst dann, wenn wir bei irgend einem Zusammen- hang psychischer Vorgänge von den in denselben eingehen- den Vorstellungsgebilden ganz absehen und bloß auf die subjectiven Begleiterscheinungen derselben, die Gefühle, Affecte u. s. w., Rücksicht nehmen, solchen durch Abstraction isolirten Gemüthsbewegungen genau dieselben zeitlichen Eigenschaften zuschreiben wie den Vorstellungen. In der Philosophie hat man hieraus meistens den Schluss gezogen, die Zeit sei die »allgemeinere Anschauungsform«, d. h. es

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/183>, abgerufen am 21.11.2024.