Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.Einleitung. möglichster Abstraction von dem Subject, die letztere den An-theil des Subjectes an der Entstehung der Erfahrung berück- sichtigt, sondern auch in dem Sinne, dass beide jedem einzelnen Erfahrungsinhalte gegenüber einen abweichenden Standpunkt der Betrachtung einnehmen. Indem die Naturwissenschaft zu er- mitteln sucht, wie die Objecte ohne Rücksicht auf das Subject beschaffen sind, ist die Erkenntniss, die sie zu Stande bringt, eine mittelbare oder begriffliche: an Stelle der unmittel- baren Erfahrungsobjecte bleiben ihr die aus diesen Objecten mittelst der Abstraction von den subjectiven Bestandtheilen unserer Vorstellungen gewonnenen Begriffsinhalte. Diese Ab- straction macht aber stets zugleich hypothetische Ergänzungen der Wirklichkeit erforderlich. Da nämlich die naturwissenschaft- liche Analyse zahlreiche Bestandtheile der Erfahrung, wie z. B. die Empfindungsinhalte, als subjective Wirkungen objectiver Vor- gänge nachweist, so können diese letzteren in ihrer von dem Sub- jecte unabhängigen Beschaffenheit nicht in der Erfahrung enthalten sein. Man pflegt sie deshalb mittelst hypothetischer Hülfsbegriffe über die objectiven Eigenschaften der Materie zu gewinnen. Indem dagegen die Psychologie den Inhalt der Erfahrung in seiner vollen Wirklichkeit, die auf Objecte bezogenen Vorstellungen samt allen ihnen anhaftenden subjectiven Regungen, untersucht, ist ihre Erkenntnissweise eine unmittelbare oder anschauliche: eine anschauliche in der erweiterten Bedeutung, die dieser Be- griff in der neueren wissenschaftlichen Terminologie angenommen hat, und in der er nicht mehr bloß die unmittelbaren Wahr- nehmungsinhalte der äußeren Sinne, namentlich des Gesichtssinns, sondern alles concret Wirkliche, im Gegensatz zum abstract und begrifflich Gedachten, bezeichnet. Den Zusammenhang der Erfahrungsinhalte, wie er dem Subject wirklich gegeben ist, kann nun die Psychologie nur aufzeigen, indem sie sich ihrerseits jener Abstractionen und hypothetischen Hülfsbegriffe der Natur- wissenschaft gänzlich enthält. Sind also Naturwissenschaft und Psychologie beide in dem Sinne empirische Wissenschaften, dass sie die Erklärung der Erfahrung zu ihrem Inhalte haben, die sie nur von verschiedenen Standpunkten aus unternehmen, so ist doch die Psychologie in Folge der Eigenthümlichkeit ihrer Auf- gabe offenbar die strenger empirische Wissenschaft. Einleitung. möglichster Abstraction von dem Subject, die letztere den An-theil des Subjectes an der Entstehung der Erfahrung berück- sichtigt, sondern auch in dem Sinne, dass beide jedem einzelnen Erfahrungsinhalte gegenüber einen abweichenden Standpunkt der Betrachtung einnehmen. Indem die Naturwissenschaft zu er- mitteln sucht, wie die Objecte ohne Rücksicht auf das Subject beschaffen sind, ist die Erkenntniss, die sie zu Stande bringt, eine mittelbare oder begriffliche: an Stelle der unmittel- baren Erfahrungsobjecte bleiben ihr die aus diesen Objecten mittelst der Abstraction von den subjectiven Bestandtheilen unserer Vorstellungen gewonnenen Begriffsinhalte. Diese Ab- straction macht aber stets zugleich hypothetische Ergänzungen der Wirklichkeit erforderlich. Da nämlich die naturwissenschaft- liche Analyse zahlreiche Bestandtheile der Erfahrung, wie z. B. die Empfindungsinhalte, als subjective Wirkungen objectiver Vor- gänge nachweist, so können diese letzteren in ihrer von dem Sub- jecte unabhängigen Beschaffenheit nicht in der Erfahrung enthalten sein. Man pflegt sie deshalb mittelst hypothetischer Hülfsbegriffe über die objectiven Eigenschaften der Materie zu gewinnen. Indem dagegen die Psychologie den Inhalt der Erfahrung in seiner vollen Wirklichkeit, die auf Objecte bezogenen Vorstellungen samt allen ihnen anhaftenden subjectiven Regungen, untersucht, ist ihre Erkenntnissweise eine unmittelbare oder anschauliche: eine anschauliche in der erweiterten Bedeutung, die dieser Be- griff in der neueren wissenschaftlichen Terminologie angenommen hat, und in der er nicht mehr bloß die unmittelbaren Wahr- nehmungsinhalte der äußeren Sinne, namentlich des Gesichtssinns, sondern alles concret Wirkliche, im Gegensatz zum abstract und begrifflich Gedachten, bezeichnet. Den Zusammenhang der Erfahrungsinhalte, wie er dem Subject wirklich gegeben ist, kann nun die Psychologie nur aufzeigen, indem sie sich ihrerseits jener Abstractionen und hypothetischen Hülfsbegriffe der Natur- wissenschaft gänzlich enthält. Sind also Naturwissenschaft und Psychologie beide in dem Sinne empirische Wissenschaften, dass sie die Erklärung der Erfahrung zu ihrem Inhalte haben, die sie nur von verschiedenen Standpunkten aus unternehmen, so ist doch die Psychologie in Folge der Eigenthümlichkeit ihrer Auf- gabe offenbar die strenger empirische Wissenschaft. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0022" n="6"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/> möglichster Abstraction von dem Subject, die letztere den An-<lb/> theil des Subjectes an der Entstehung der Erfahrung berück-<lb/> sichtigt, sondern auch in dem Sinne, dass beide jedem einzelnen<lb/> Erfahrungsinhalte gegenüber einen abweichenden Standpunkt der<lb/> Betrachtung einnehmen. 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Einleitung.
möglichster Abstraction von dem Subject, die letztere den An-
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sichtigt, sondern auch in dem Sinne, dass beide jedem einzelnen
Erfahrungsinhalte gegenüber einen abweichenden Standpunkt der
Betrachtung einnehmen. Indem die Naturwissenschaft zu er-
mitteln sucht, wie die Objecte ohne Rücksicht auf das Subject
beschaffen sind, ist die Erkenntniss, die sie zu Stande bringt,
eine mittelbare oder begriffliche: an Stelle der unmittel-
baren Erfahrungsobjecte bleiben ihr die aus diesen Objecten
mittelst der Abstraction von den subjectiven Bestandtheilen
unserer Vorstellungen gewonnenen Begriffsinhalte. Diese Ab-
straction macht aber stets zugleich hypothetische Ergänzungen
der Wirklichkeit erforderlich. Da nämlich die naturwissenschaft-
liche Analyse zahlreiche Bestandtheile der Erfahrung, wie z. B.
die Empfindungsinhalte, als subjective Wirkungen objectiver Vor-
gänge nachweist, so können diese letzteren in ihrer von dem Sub-
jecte unabhängigen Beschaffenheit nicht in der Erfahrung enthalten
sein. Man pflegt sie deshalb mittelst hypothetischer Hülfsbegriffe
über die objectiven Eigenschaften der Materie zu gewinnen. Indem
dagegen die Psychologie den Inhalt der Erfahrung in seiner vollen
Wirklichkeit, die auf Objecte bezogenen Vorstellungen samt
allen ihnen anhaftenden subjectiven Regungen, untersucht, ist
ihre Erkenntnissweise eine unmittelbare oder anschauliche:
eine anschauliche in der erweiterten Bedeutung, die dieser Be-
griff in der neueren wissenschaftlichen Terminologie angenommen
hat, und in der er nicht mehr bloß die unmittelbaren Wahr-
nehmungsinhalte der äußeren Sinne, namentlich des Gesichtssinns,
sondern alles concret Wirkliche, im Gegensatz zum abstract
und begrifflich Gedachten, bezeichnet. Den Zusammenhang der
Erfahrungsinhalte, wie er dem Subject wirklich gegeben ist,
kann nun die Psychologie nur aufzeigen, indem sie sich ihrerseits
jener Abstractionen und hypothetischen Hülfsbegriffe der Natur-
wissenschaft gänzlich enthält. Sind also Naturwissenschaft und
Psychologie beide in dem Sinne empirische Wissenschaften, dass
sie die Erklärung der Erfahrung zu ihrem Inhalte haben, die sie
nur von verschiedenen Standpunkten aus unternehmen, so ist
doch die Psychologie in Folge der Eigenthümlichkeit ihrer Auf-
gabe offenbar die strenger empirische Wissenschaft.
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