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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 14. Die Willensvorgänge.
nicht nur das ganze für die höhere Entwicklung des Willens so
wichtige Gebiet der inneren Willenshandlungen gänzlich unbeachtet
zu lassen, sondern auch die die äußere Handlung vorbereitenden
Bestandtheile des Willensvorganges nur höchst unvollständig, zu-
meist nur in Bezug auf die am meisten hervortretenden Vor-
stellungsbestandtheile der Motive, zu berücksichtigen. Die Folge
war, dass man den engen genetischen Zusammenhang der Trieb-
und der Willkürhandlungen nicht beachtete, jene als den Reflexen
nahestehende Erscheinungen gänzlich von dem Willen loslöste
und demnach diesen auf die Willkür- und Wahlhandlungen ein-
schränkte. Da nun außerdem die einseitige Rücksicht auf die
Vorstellungsbestandtheile der Motive die Entwicklung des Willens-
actes aus dem Affect völlig übersehen ließ, so kam man zu der
seltsamen Vorstellung, die Willenshandlung sei nicht das Erzeugniss
der ihr vorausgehenden Motive und der auf die letzteren ein-
wirkenden und dem entscheidenden Motiv zur Herrschaft ver-
helfenden psychischen Bedingungen, sondern das Wollen sei ein
neben den Motiven sich ereignendes und an sich von ihnen un-
abhängiges Geschehen, das Product eines metaphysischen Willens-
vermögens, welches man auch, da nur die Willkürhandlungen
für wirkliche Willenshandlungen gehalten wurden, geradezu als
das "Wahlvermögen" der Seele definirte oder als ihr Vermögen,
von verschiedenen auf sie wirkenden Motiven einem den Vorzug
zu geben. Damit hatte man eigentlich nur den Enderfolg des
Willensvorganges, die Willenshandlung, statt sie aus den voraus-
gehenden psychischen Bedingungen abzuleiten, zur Bildung eines
allgemeinen Begriffs benutzt, den man Willen nannte, welchen
Gattungsbegriff man nun im Sinne der Vermögenstheorie als eine
erste Ursache behandelte, aus der alle einzelnen Willensacte
hervorgehen sollten.

Es war nur eine Modification dieser abstracten Willenstheorie,
wenn Schopenhauer und ihm folgend manche neuere Psychologen
und Philosophen den Willensvorgang selbst für ein "unbewusstes"
Geschehen erklärten, dessen Erfolg, die Willenshandlung, erst
ein bewusster psychischer Vorgang sei. Hier hatte augenschein-
lich die unzulängliche Beobachtung des der Handlung voraus-
gehenden Willensvorganges zu der Behauptung geführt, ein solcher
Willensvorgang existire überhaupt nicht. Da hiermit die ganze
Mannigfaltigkeit der concreten Willensprocesse in dem Begriff

§ 14. Die Willensvorgänge.
nicht nur das ganze für die höhere Entwicklung des Willens so
wichtige Gebiet der inneren Willenshandlungen gänzlich unbeachtet
zu lassen, sondern auch die die äußere Handlung vorbereitenden
Bestandtheile des Willensvorganges nur höchst unvollständig, zu-
meist nur in Bezug auf die am meisten hervortretenden Vor-
stellungsbestandtheile der Motive, zu berücksichtigen. Die Folge
war, dass man den engen genetischen Zusammenhang der Trieb-
und der Willkürhandlungen nicht beachtete, jene als den Reflexen
nahestehende Erscheinungen gänzlich von dem Willen loslöste
und demnach diesen auf die Willkür- und Wahlhandlungen ein-
schränkte. Da nun außerdem die einseitige Rücksicht auf die
Vorstellungsbestandtheile der Motive die Entwicklung des Willens-
actes aus dem Affect völlig übersehen ließ, so kam man zu der
seltsamen Vorstellung, die Willenshandlung sei nicht das Erzeugniss
der ihr vorausgehenden Motive und der auf die letzteren ein-
wirkenden und dem entscheidenden Motiv zur Herrschaft ver-
helfenden psychischen Bedingungen, sondern das Wollen sei ein
neben den Motiven sich ereignendes und an sich von ihnen un-
abhängiges Geschehen, das Product eines metaphysischen Willens-
vermögens, welches man auch, da nur die Willkürhandlungen
für wirkliche Willenshandlungen gehalten wurden, geradezu als
das »Wahlvermögen« der Seele definirte oder als ihr Vermögen,
von verschiedenen auf sie wirkenden Motiven einem den Vorzug
zu geben. Damit hatte man eigentlich nur den Enderfolg des
Willensvorganges, die Willenshandlung, statt sie aus den voraus-
gehenden psychischen Bedingungen abzuleiten, zur Bildung eines
allgemeinen Begriffs benutzt, den man Willen nannte, welchen
Gattungsbegriff man nun im Sinne der Vermögenstheorie als eine
erste Ursache behandelte, aus der alle einzelnen Willensacte
hervorgehen sollten.

Es war nur eine Modification dieser abstracten Willenstheorie,
wenn Schopenhauer und ihm folgend manche neuere Psychologen
und Philosophen den Willensvorgang selbst für ein »unbewusstes«
Geschehen erklärten, dessen Erfolg, die Willenshandlung, erst
ein bewusster psychischer Vorgang sei. Hier hatte augenschein-
lich die unzulängliche Beobachtung des der Handlung voraus-
gehenden Willensvorganges zu der Behauptung geführt, ein solcher
Willensvorgang existire überhaupt nicht. Da hiermit die ganze
Mannigfaltigkeit der concreten Willensprocesse in dem Begriff

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[229/0245] § 14. Die Willensvorgänge. nicht nur das ganze für die höhere Entwicklung des Willens so wichtige Gebiet der inneren Willenshandlungen gänzlich unbeachtet zu lassen, sondern auch die die äußere Handlung vorbereitenden Bestandtheile des Willensvorganges nur höchst unvollständig, zu- meist nur in Bezug auf die am meisten hervortretenden Vor- stellungsbestandtheile der Motive, zu berücksichtigen. Die Folge war, dass man den engen genetischen Zusammenhang der Trieb- und der Willkürhandlungen nicht beachtete, jene als den Reflexen nahestehende Erscheinungen gänzlich von dem Willen loslöste und demnach diesen auf die Willkür- und Wahlhandlungen ein- schränkte. Da nun außerdem die einseitige Rücksicht auf die Vorstellungsbestandtheile der Motive die Entwicklung des Willens- actes aus dem Affect völlig übersehen ließ, so kam man zu der seltsamen Vorstellung, die Willenshandlung sei nicht das Erzeugniss der ihr vorausgehenden Motive und der auf die letzteren ein- wirkenden und dem entscheidenden Motiv zur Herrschaft ver- helfenden psychischen Bedingungen, sondern das Wollen sei ein neben den Motiven sich ereignendes und an sich von ihnen un- abhängiges Geschehen, das Product eines metaphysischen Willens- vermögens, welches man auch, da nur die Willkürhandlungen für wirkliche Willenshandlungen gehalten wurden, geradezu als das »Wahlvermögen« der Seele definirte oder als ihr Vermögen, von verschiedenen auf sie wirkenden Motiven einem den Vorzug zu geben. Damit hatte man eigentlich nur den Enderfolg des Willensvorganges, die Willenshandlung, statt sie aus den voraus- gehenden psychischen Bedingungen abzuleiten, zur Bildung eines allgemeinen Begriffs benutzt, den man Willen nannte, welchen Gattungsbegriff man nun im Sinne der Vermögenstheorie als eine erste Ursache behandelte, aus der alle einzelnen Willensacte hervorgehen sollten. Es war nur eine Modification dieser abstracten Willenstheorie, wenn Schopenhauer und ihm folgend manche neuere Psychologen und Philosophen den Willensvorgang selbst für ein »unbewusstes« Geschehen erklärten, dessen Erfolg, die Willenshandlung, erst ein bewusster psychischer Vorgang sei. Hier hatte augenschein- lich die unzulängliche Beobachtung des der Handlung voraus- gehenden Willensvorganges zu der Behauptung geführt, ein solcher Willensvorgang existire überhaupt nicht. Da hiermit die ganze Mannigfaltigkeit der concreten Willensprocesse in dem Begriff

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/245>, abgerufen am 24.11.2024.