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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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II. Die psychischen Gebilde.
des einen unbewussten Willens aufgehoben war, so war das
psychologische Ergebniss dasselbe wie vorher: an die Stelle der
Erfassung der concreten psychischen Vorgänge und ihrer Ver-
bindung wurde ein Gattungsbegriff gesetzt, der fälschlich die
Bedeutung einer allgemeinen Ursache übernahm.

Auch die neuere und selbst die experimentelle Psychologie
steht vielfach noch im Banne dieser tief eingewurzelten abstracten
Willenslehre. Indem man die Erklärung einer Handlung aus der
concreten psychischen Causalität des vorangegangenen Willens-
vorganges von vornherein für unmöglich erklärt, gilt als das
einzige Merkmal des Willensactes die Summe der Empfindungen,
welche die äußere Handlung begleiten, und welche, wenn sich
eine Handlung oft wiederholt hat, dieser selbst als blasse Er-
innerungsbilder unmittelbar vorausgehen. Als die Ursachen der
Handlung werden aber die physischen Erregungsvorgänge inner-
halb des Nervensystems betrachtet. Wie die Frage nach der
Causalität des Willens bei der vorigen Theorie aus der Psycho-
logie in die Metaphysik, so wird sie daher bei dieser aus der
Psychologie in die Physiologie verwiesen. In der That wird sie
aber auch hier auf dem Wege von der einen in die andere von
der Metaphysik eingefangen. Da nämlich die Physiologie als
empirische Wissenschaft die vollständige Ableitung der eine com-
plexe Willenshandlung begleitenden physischen Vorgänge aus ihren
Vorbedingungen nicht nur für jetzt, sondern, weil diese Frage
auf ein Unendlichkeitsproblem führt, für alle Zeit ablehnen muss,
so bleibt als der einzige Rechtsgrund dieser Theorie der Lehrsatz
der materialistischen Metaphysik stehen, dass die so genannten
materiellen Vorgänge die einzige Wirklichkeit der Dinge seien,
und dass daher die psychischen aus den materiellen Vorgängen
erklärt werden müssten. Nun ist es aber ein unerlässliches
Regulativ der Psychologie als empirischer Wissenschaft, dass
sie den Thatbestand der psychischen Vorgänge so wie er der
unmittelbaren Erfahrung gegeben ist erforscht, und dass sie daher
den Zusammenhang dieser Vorgänge nicht unter Gesichtspunkten
betrachtet, die ihm selbst fremd sind. (Vgl. § 1 und S. 20 f.)
Wie ein Willensvorgang verläuft, können wir unmöglich anders
erfahren, als indem wir ihn genau so verfolgen, wie er uns in
der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist. In dieser ist er aber
nicht als ein abstracter Begriff gegeben, sondern als ein concretes

II. Die psychischen Gebilde.
des einen unbewussten Willens aufgehoben war, so war das
psychologische Ergebniss dasselbe wie vorher: an die Stelle der
Erfassung der concreten psychischen Vorgänge und ihrer Ver-
bindung wurde ein Gattungsbegriff gesetzt, der fälschlich die
Bedeutung einer allgemeinen Ursache übernahm.

Auch die neuere und selbst die experimentelle Psychologie
steht vielfach noch im Banne dieser tief eingewurzelten abstracten
Willenslehre. Indem man die Erklärung einer Handlung aus der
concreten psychischen Causalität des vorangegangenen Willens-
vorganges von vornherein für unmöglich erklärt, gilt als das
einzige Merkmal des Willensactes die Summe der Empfindungen,
welche die äußere Handlung begleiten, und welche, wenn sich
eine Handlung oft wiederholt hat, dieser selbst als blasse Er-
innerungsbilder unmittelbar vorausgehen. Als die Ursachen der
Handlung werden aber die physischen Erregungsvorgänge inner-
halb des Nervensystems betrachtet. Wie die Frage nach der
Causalität des Willens bei der vorigen Theorie aus der Psycho-
logie in die Metaphysik, so wird sie daher bei dieser aus der
Psychologie in die Physiologie verwiesen. In der That wird sie
aber auch hier auf dem Wege von der einen in die andere von
der Metaphysik eingefangen. Da nämlich die Physiologie als
empirische Wissenschaft die vollständige Ableitung der eine com-
plexe Willenshandlung begleitenden physischen Vorgänge aus ihren
Vorbedingungen nicht nur für jetzt, sondern, weil diese Frage
auf ein Unendlichkeitsproblem führt, für alle Zeit ablehnen muss,
so bleibt als der einzige Rechtsgrund dieser Theorie der Lehrsatz
der materialistischen Metaphysik stehen, dass die so genannten
materiellen Vorgänge die einzige Wirklichkeit der Dinge seien,
und dass daher die psychischen aus den materiellen Vorgängen
erklärt werden müssten. Nun ist es aber ein unerlässliches
Regulativ der Psychologie als empirischer Wissenschaft, dass
sie den Thatbestand der psychischen Vorgänge so wie er der
unmittelbaren Erfahrung gegeben ist erforscht, und dass sie daher
den Zusammenhang dieser Vorgänge nicht unter Gesichtspunkten
betrachtet, die ihm selbst fremd sind. (Vgl. § 1 und S. 20 f.)
Wie ein Willensvorgang verläuft, können wir unmöglich anders
erfahren, als indem wir ihn genau so verfolgen, wie er uns in
der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist. In dieser ist er aber
nicht als ein abstracter Begriff gegeben, sondern als ein concretes

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[230/0246] II. Die psychischen Gebilde. des einen unbewussten Willens aufgehoben war, so war das psychologische Ergebniss dasselbe wie vorher: an die Stelle der Erfassung der concreten psychischen Vorgänge und ihrer Ver- bindung wurde ein Gattungsbegriff gesetzt, der fälschlich die Bedeutung einer allgemeinen Ursache übernahm. Auch die neuere und selbst die experimentelle Psychologie steht vielfach noch im Banne dieser tief eingewurzelten abstracten Willenslehre. Indem man die Erklärung einer Handlung aus der concreten psychischen Causalität des vorangegangenen Willens- vorganges von vornherein für unmöglich erklärt, gilt als das einzige Merkmal des Willensactes die Summe der Empfindungen, welche die äußere Handlung begleiten, und welche, wenn sich eine Handlung oft wiederholt hat, dieser selbst als blasse Er- innerungsbilder unmittelbar vorausgehen. Als die Ursachen der Handlung werden aber die physischen Erregungsvorgänge inner- halb des Nervensystems betrachtet. Wie die Frage nach der Causalität des Willens bei der vorigen Theorie aus der Psycho- logie in die Metaphysik, so wird sie daher bei dieser aus der Psychologie in die Physiologie verwiesen. In der That wird sie aber auch hier auf dem Wege von der einen in die andere von der Metaphysik eingefangen. Da nämlich die Physiologie als empirische Wissenschaft die vollständige Ableitung der eine com- plexe Willenshandlung begleitenden physischen Vorgänge aus ihren Vorbedingungen nicht nur für jetzt, sondern, weil diese Frage auf ein Unendlichkeitsproblem führt, für alle Zeit ablehnen muss, so bleibt als der einzige Rechtsgrund dieser Theorie der Lehrsatz der materialistischen Metaphysik stehen, dass die so genannten materiellen Vorgänge die einzige Wirklichkeit der Dinge seien, und dass daher die psychischen aus den materiellen Vorgängen erklärt werden müssten. Nun ist es aber ein unerlässliches Regulativ der Psychologie als empirischer Wissenschaft, dass sie den Thatbestand der psychischen Vorgänge so wie er der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist erforscht, und dass sie daher den Zusammenhang dieser Vorgänge nicht unter Gesichtspunkten betrachtet, die ihm selbst fremd sind. (Vgl. § 1 und S. 20 f.) Wie ein Willensvorgang verläuft, können wir unmöglich anders erfahren, als indem wir ihn genau so verfolgen, wie er uns in der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist. In dieser ist er aber nicht als ein abstracter Begriff gegeben, sondern als ein concretes

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/246>, abgerufen am 21.11.2024.