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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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IV. Die psychischen Entwicklungen.
relativ deutliche Sinneswahrnehmungen zu bilden und zweck-
mäßige Bewegungen auszuführen. Finden sich auch in
dieser Beziehung bei den höheren Thieren sehr große Unter-
schiede -- so beginnt z. B. das aus dem Ei geschlüpfte
Hühnchen sofort Körner zu picken, während der neugeborene
Hund blind ist und noch längere Zeit ungeschickt in seinen
Bewegungen bleibt -- so scheint es doch, dass die mensch-
liche Entwicklung die langsamste und die am meisten von
äußerer Hülfe und Pflege abhängige ist.

3. Viel auffallender noch ist aber die einseitige
Functionsausbildung
gewisser Thiere, die sich in
bestimmten, regelmäßig mit gewissen Nahrungs-, Fort-
pflanzungs- oder Schutzbedürfnissen zusammenhängenden
Triebhandlungen und in der Ausbildung bestimmter
Sinneswahrnehmungen und Associationen äußert, die als
Motive in jene Triebhandlungen eingehen. Solche einseitig
ausgebildete Triebe nennt man Instincte. Die Annahme,
dass der Instinct eine nur dem thierischen, nicht dem
menschlichem Bewusstsein zukommende Eigenschaft sei, ist
natürlich völlig unpsychologisch und steht im Widerspruch
mit der Erfahrung. Die Anlage zur Aeußerung der allge-
meinen thierischen Triebe, namentlich des Nahrungs- und
Geschlechtstriebes, ist dem Menschen so gut wie jedem
Thiere angeboren. Eigenthümlich ist nur vielen Thieren
die besondere, in verwickelteren zweckmäßigen Handlungen
bestehende Aeußerungsweise dieser Triebe. Doch verhalten
sich in dieser Beziehung die Thiere selbst außerordentlich
verschieden. Es gibt zahlreiche sowohl niedere wie höhere
Thiere, bei denen die von angeborenen Instincten aus-
gehenden Handlungen ebenso wenig wie beim Menschen
besonders augenfällige Eigenschaften zeigen. Auch ist be-
merkenswerth, dass die Züchtung der Thiere meist die ihnen
im wilden Zustande zukommenden Instinctäußerungen ab-

IV. Die psychischen Entwicklungen.
relativ deutliche Sinneswahrnehmungen zu bilden und zweck-
mäßige Bewegungen auszuführen. Finden sich auch in
dieser Beziehung bei den höheren Thieren sehr große Unter-
schiede — so beginnt z. B. das aus dem Ei geschlüpfte
Hühnchen sofort Körner zu picken, während der neugeborene
Hund blind ist und noch längere Zeit ungeschickt in seinen
Bewegungen bleibt — so scheint es doch, dass die mensch-
liche Entwicklung die langsamste und die am meisten von
äußerer Hülfe und Pflege abhängige ist.

3. Viel auffallender noch ist aber die einseitige
Functionsausbildung
gewisser Thiere, die sich in
bestimmten, regelmäßig mit gewissen Nahrungs-, Fort-
pflanzungs- oder Schutzbedürfnissen zusammenhängenden
Triebhandlungen und in der Ausbildung bestimmter
Sinneswahrnehmungen und Associationen äußert, die als
Motive in jene Triebhandlungen eingehen. Solche einseitig
ausgebildete Triebe nennt man Instincte. Die Annahme,
dass der Instinct eine nur dem thierischen, nicht dem
menschlichem Bewusstsein zukommende Eigenschaft sei, ist
natürlich völlig unpsychologisch und steht im Widerspruch
mit der Erfahrung. Die Anlage zur Aeußerung der allge-
meinen thierischen Triebe, namentlich des Nahrungs- und
Geschlechtstriebes, ist dem Menschen so gut wie jedem
Thiere angeboren. Eigenthümlich ist nur vielen Thieren
die besondere, in verwickelteren zweckmäßigen Handlungen
bestehende Aeußerungsweise dieser Triebe. Doch verhalten
sich in dieser Beziehung die Thiere selbst außerordentlich
verschieden. Es gibt zahlreiche sowohl niedere wie höhere
Thiere, bei denen die von angeborenen Instincten aus-
gehenden Handlungen ebenso wenig wie beim Menschen
besonders augenfällige Eigenschaften zeigen. Auch ist be-
merkenswerth, dass die Züchtung der Thiere meist die ihnen
im wilden Zustande zukommenden Instinctäußerungen ab-

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[326/0342] IV. Die psychischen Entwicklungen. relativ deutliche Sinneswahrnehmungen zu bilden und zweck- mäßige Bewegungen auszuführen. Finden sich auch in dieser Beziehung bei den höheren Thieren sehr große Unter- schiede — so beginnt z. B. das aus dem Ei geschlüpfte Hühnchen sofort Körner zu picken, während der neugeborene Hund blind ist und noch längere Zeit ungeschickt in seinen Bewegungen bleibt — so scheint es doch, dass die mensch- liche Entwicklung die langsamste und die am meisten von äußerer Hülfe und Pflege abhängige ist. 3. Viel auffallender noch ist aber die einseitige Functionsausbildung gewisser Thiere, die sich in bestimmten, regelmäßig mit gewissen Nahrungs-, Fort- pflanzungs- oder Schutzbedürfnissen zusammenhängenden Triebhandlungen und in der Ausbildung bestimmter Sinneswahrnehmungen und Associationen äußert, die als Motive in jene Triebhandlungen eingehen. Solche einseitig ausgebildete Triebe nennt man Instincte. Die Annahme, dass der Instinct eine nur dem thierischen, nicht dem menschlichem Bewusstsein zukommende Eigenschaft sei, ist natürlich völlig unpsychologisch und steht im Widerspruch mit der Erfahrung. Die Anlage zur Aeußerung der allge- meinen thierischen Triebe, namentlich des Nahrungs- und Geschlechtstriebes, ist dem Menschen so gut wie jedem Thiere angeboren. Eigenthümlich ist nur vielen Thieren die besondere, in verwickelteren zweckmäßigen Handlungen bestehende Aeußerungsweise dieser Triebe. Doch verhalten sich in dieser Beziehung die Thiere selbst außerordentlich verschieden. Es gibt zahlreiche sowohl niedere wie höhere Thiere, bei denen die von angeborenen Instincten aus- gehenden Handlungen ebenso wenig wie beim Menschen besonders augenfällige Eigenschaften zeigen. Auch ist be- merkenswerth, dass die Züchtung der Thiere meist die ihnen im wilden Zustande zukommenden Instinctäußerungen ab-

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/342>, abgerufen am 24.11.2024.