Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. theils darin, dass bei ihm lebhafte Affecte, besonders Furchtund Schreck, leicht phantastische Illusionen von analogem Gefühlscharakter hervorrufen. Aber diese Aeußerungen eines mythenbildenden Bewusstseins werden hier durch die Einflüsse der Umgebung und Erziehung früh ermäßigt und bald ganz unterdrückt. Anders beim Natur- und primitiven Culturmenschen, wo umgekehrt die Umgebung dem Einzel- bewusstsein eine Fülle mythischer Vorstellungen zuführt, die, auf übereinstimmende Weise ursprünglich individuell ent- standen, allmählich sich in einer bestimmten Gemeinschaft befestigt haben und, analog der Sprache und vielfach in Wechselwirkung mit derselben, von Generation zu Gene- ration sich fortpflanzen, indem sie sich dabei allmählich mit den Veränderungen der Natur- und Culturbedingungen selber verändern. 9. Für die Richtung, in der diese Veränderungen er- § 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. theils darin, dass bei ihm lebhafte Affecte, besonders Furchtund Schreck, leicht phantastische Illusionen von analogem Gefühlscharakter hervorrufen. Aber diese Aeußerungen eines mythenbildenden Bewusstseins werden hier durch die Einflüsse der Umgebung und Erziehung früh ermäßigt und bald ganz unterdrückt. Anders beim Natur- und primitiven Culturmenschen, wo umgekehrt die Umgebung dem Einzel- bewusstsein eine Fülle mythischer Vorstellungen zuführt, die, auf übereinstimmende Weise ursprünglich individuell ent- standen, allmählich sich in einer bestimmten Gemeinschaft befestigt haben und, analog der Sprache und vielfach in Wechselwirkung mit derselben, von Generation zu Gene- ration sich fortpflanzen, indem sie sich dabei allmählich mit den Veränderungen der Natur- und Culturbedingungen selber verändern. 9. Für die Richtung, in der diese Veränderungen er- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0373" n="357"/><fw place="top" type="header">§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.</fw><lb/> theils darin, dass bei ihm lebhafte Affecte, besonders Furcht<lb/> und Schreck, leicht phantastische Illusionen von analogem<lb/> Gefühlscharakter hervorrufen. Aber diese Aeußerungen<lb/> eines mythenbildenden Bewusstseins werden hier durch die<lb/> Einflüsse der Umgebung und Erziehung früh ermäßigt und<lb/> bald ganz unterdrückt. Anders beim Natur- und primitiven<lb/> Culturmenschen, wo umgekehrt die Umgebung dem Einzel-<lb/> bewusstsein eine Fülle mythischer Vorstellungen zuführt, die,<lb/> auf übereinstimmende Weise ursprünglich individuell ent-<lb/> standen, allmählich sich in einer bestimmten Gemeinschaft<lb/> befestigt haben und, analog der Sprache und vielfach in<lb/> Wechselwirkung mit derselben, von Generation zu Gene-<lb/> ration sich fortpflanzen, indem sie sich dabei allmählich mit<lb/> den Veränderungen der Natur- und Culturbedingungen selber<lb/> verändern.</p><lb/> <p>9. Für die Richtung, in der diese Veränderungen er-<lb/> folgen, ist im allgemeinen die Thatsache bestimmend, dass,<lb/> wie oben bemerkt, der jeweilige Gemüthszustand auf die<lb/> besondere Art der mythischen Apperception hauptsächtlich<lb/> von Einfluss ist. Ueber die Art, wie sich dieser Gemüths-<lb/> zustand von den ersten Anfängen geistiger Entwicklung an<lb/> verändert hat, gibt uns aber wieder bei dem gänzlichen<lb/> Mangel anderer Zeugnisse hauptsächlich die Entwicklungs-<lb/> geschichte der mythologischen Vorstellungen einigermaßen<lb/> Rechenschaft. Sie zeigt nun, dass durchgehends die frü-<lb/> hesten mythischen Gedankenbildungen einerseits sich auf<lb/> das eigene Schicksal der nächsten Zukunft beziehen, und<lb/> anderseits von den Affecten, die durch den Tod der Ge-<lb/> nossen, durch die Erinnerung an sie erweckt werden,<lb/> besonders auch durch die Erinnerungsvorstellungen des<lb/> Traumes, bestimmt sind. Hierin liegt der Ursprung des<lb/> sogenannten »Animismus«, d. h. aller jener Vorstellungen,<lb/> bei denen die Geister Verstorbener die Rolle von Schicksals-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [357/0373]
§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.
theils darin, dass bei ihm lebhafte Affecte, besonders Furcht
und Schreck, leicht phantastische Illusionen von analogem
Gefühlscharakter hervorrufen. Aber diese Aeußerungen
eines mythenbildenden Bewusstseins werden hier durch die
Einflüsse der Umgebung und Erziehung früh ermäßigt und
bald ganz unterdrückt. Anders beim Natur- und primitiven
Culturmenschen, wo umgekehrt die Umgebung dem Einzel-
bewusstsein eine Fülle mythischer Vorstellungen zuführt, die,
auf übereinstimmende Weise ursprünglich individuell ent-
standen, allmählich sich in einer bestimmten Gemeinschaft
befestigt haben und, analog der Sprache und vielfach in
Wechselwirkung mit derselben, von Generation zu Gene-
ration sich fortpflanzen, indem sie sich dabei allmählich mit
den Veränderungen der Natur- und Culturbedingungen selber
verändern.
9. Für die Richtung, in der diese Veränderungen er-
folgen, ist im allgemeinen die Thatsache bestimmend, dass,
wie oben bemerkt, der jeweilige Gemüthszustand auf die
besondere Art der mythischen Apperception hauptsächtlich
von Einfluss ist. Ueber die Art, wie sich dieser Gemüths-
zustand von den ersten Anfängen geistiger Entwicklung an
verändert hat, gibt uns aber wieder bei dem gänzlichen
Mangel anderer Zeugnisse hauptsächlich die Entwicklungs-
geschichte der mythologischen Vorstellungen einigermaßen
Rechenschaft. Sie zeigt nun, dass durchgehends die frü-
hesten mythischen Gedankenbildungen einerseits sich auf
das eigene Schicksal der nächsten Zukunft beziehen, und
anderseits von den Affecten, die durch den Tod der Ge-
nossen, durch die Erinnerung an sie erweckt werden,
besonders auch durch die Erinnerungsvorstellungen des
Traumes, bestimmt sind. Hierin liegt der Ursprung des
sogenannten »Animismus«, d. h. aller jener Vorstellungen,
bei denen die Geister Verstorbener die Rolle von Schicksals-
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