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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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IV. Die psychischen Entwicklungen.
mächten spielen, die bald glück- bald unheilbringend in
das Leben des Menschen eingreifen. Eine Art Abzweigung
dieses Animismus ist der "Fetischismus", bei dem die
Vorstellung, der Schicksalsmacht auf die mannigfachsten
Gegenstände der Umgebung, wie Thiere, Pflanzen, Steine,
Kunstobjecte, besonders auf solche, die durch auffallende
Beschaffenheit oder zufällige äußere Umstände die Aufmerk-
samkeit fesseln, übertragen wird. Die Erscheinungen des
Animismus und Fetischismus haben das Eigenthümliche,
dass sie nicht nur die primitivsten, sondern auch die dauer-
haftesten Erzeugnisse der mythischen Apperception sind, da
sie nach Verdrängung aller andern in den mannigfachsten
Formen des Culturaberglaubens, wie des Gespenster-, Zau-
ber-, Amuletglaubens, noch fortleben.

10. Erst auf einer gereifteren Stufe des mythenbilden-
den Bewusstseins bethätigt sich die personificirende Apper-
ception auch an den großen, durch ihre Veränderungen sowie
durch ihren directen Einfluss auf das Leben des Menschen ein-
drucksvollen Naturerscheinungen, wie den Wolken, Flüssen,
Stürmen, großen Gestirnen u. s. w. Hierbei regt zugleich die
Regelmäßigkeit gewisser Naturerscheinungen, wie des Wech-
sels von Tag und Nacht, von Winter und Sommer, der
Vorgänge beim Gewittersturm u. dergl., zu poetischen My-
thenbildungen an, in denen eine Reihe zusammengehöriger
Vorstellungen zu einem in sich geschlossenen Ganzen ver-
knüpft wird. So entsteht der Naturmythus, der durch
seine Beschaffenheit unmittelbar die poetische Gestaltungs-
kraft Einzelner zu seiner weiteren Ausbildung herausfordert.
Dadurch geht derselbe allmählich in einen Bestandtheil zu-
erst der Volks-, dann der Kunstpoesie über, und zugleich
erfährt er in Bezug auf die einzelnen mythischen Gestalten
durch das Verblassen ursprünglicher und das Hervortreten
neuer Züge einen Bedeutungswandel, der, dem der sprach-

IV. Die psychischen Entwicklungen.
mächten spielen, die bald glück- bald unheilbringend in
das Leben des Menschen eingreifen. Eine Art Abzweigung
dieses Animismus ist der »Fetischismus«, bei dem die
Vorstellung, der Schicksalsmacht auf die mannigfachsten
Gegenstände der Umgebung, wie Thiere, Pflanzen, Steine,
Kunstobjecte, besonders auf solche, die durch auffallende
Beschaffenheit oder zufällige äußere Umstände die Aufmerk-
samkeit fesseln, übertragen wird. Die Erscheinungen des
Animismus und Fetischismus haben das Eigenthümliche,
dass sie nicht nur die primitivsten, sondern auch die dauer-
haftesten Erzeugnisse der mythischen Apperception sind, da
sie nach Verdrängung aller andern in den mannigfachsten
Formen des Culturaberglaubens, wie des Gespenster-, Zau-
ber-, Amuletglaubens, noch fortleben.

10. Erst auf einer gereifteren Stufe des mythenbilden-
den Bewusstseins bethätigt sich die personificirende Apper-
ception auch an den großen, durch ihre Veränderungen sowie
durch ihren directen Einfluss auf das Leben des Menschen ein-
drucksvollen Naturerscheinungen, wie den Wolken, Flüssen,
Stürmen, großen Gestirnen u. s. w. Hierbei regt zugleich die
Regelmäßigkeit gewisser Naturerscheinungen, wie des Wech-
sels von Tag und Nacht, von Winter und Sommer, der
Vorgänge beim Gewittersturm u. dergl., zu poetischen My-
thenbildungen an, in denen eine Reihe zusammengehöriger
Vorstellungen zu einem in sich geschlossenen Ganzen ver-
knüpft wird. So entsteht der Naturmythus, der durch
seine Beschaffenheit unmittelbar die poetische Gestaltungs-
kraft Einzelner zu seiner weiteren Ausbildung herausfordert.
Dadurch geht derselbe allmählich in einen Bestandtheil zu-
erst der Volks-, dann der Kunstpoesie über, und zugleich
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durch das Verblassen ursprünglicher und das Hervortreten
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[358/0374] IV. Die psychischen Entwicklungen. mächten spielen, die bald glück- bald unheilbringend in das Leben des Menschen eingreifen. Eine Art Abzweigung dieses Animismus ist der »Fetischismus«, bei dem die Vorstellung, der Schicksalsmacht auf die mannigfachsten Gegenstände der Umgebung, wie Thiere, Pflanzen, Steine, Kunstobjecte, besonders auf solche, die durch auffallende Beschaffenheit oder zufällige äußere Umstände die Aufmerk- samkeit fesseln, übertragen wird. Die Erscheinungen des Animismus und Fetischismus haben das Eigenthümliche, dass sie nicht nur die primitivsten, sondern auch die dauer- haftesten Erzeugnisse der mythischen Apperception sind, da sie nach Verdrängung aller andern in den mannigfachsten Formen des Culturaberglaubens, wie des Gespenster-, Zau- ber-, Amuletglaubens, noch fortleben. 10. Erst auf einer gereifteren Stufe des mythenbilden- den Bewusstseins bethätigt sich die personificirende Apper- ception auch an den großen, durch ihre Veränderungen sowie durch ihren directen Einfluss auf das Leben des Menschen ein- drucksvollen Naturerscheinungen, wie den Wolken, Flüssen, Stürmen, großen Gestirnen u. s. w. Hierbei regt zugleich die Regelmäßigkeit gewisser Naturerscheinungen, wie des Wech- sels von Tag und Nacht, von Winter und Sommer, der Vorgänge beim Gewittersturm u. dergl., zu poetischen My- thenbildungen an, in denen eine Reihe zusammengehöriger Vorstellungen zu einem in sich geschlossenen Ganzen ver- knüpft wird. So entsteht der Naturmythus, der durch seine Beschaffenheit unmittelbar die poetische Gestaltungs- kraft Einzelner zu seiner weiteren Ausbildung herausfordert. Dadurch geht derselbe allmählich in einen Bestandtheil zu- erst der Volks-, dann der Kunstpoesie über, und zugleich erfährt er in Bezug auf die einzelnen mythischen Gestalten durch das Verblassen ursprünglicher und das Hervortreten neuer Züge einen Bedeutungswandel, der, dem der sprach-

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/374>, abgerufen am 24.11.2024.