13a. In diesen Eigenschaften der Geschmacksqualitäten scheint das Grundschema für das Verhalten eines chemischen Sinnes gegeben zu sein. In dieser Beziehung bildet der Geschmacks- sinn vielleicht eine Vorstufe zu dem Gesichtssinn. Der offenbare Zusammenhang mit der chemischen Natur des Reizungsvorganges macht es nämlich schon hier wahrscheinlich, dass die wechsel- seitige Neutralisation gewisser Empfindungen, mit der vielleicht die mehrdimensionale Beschaffenheit des Empfindungssystems zu- sammenhängt, nicht in den Empfindungen als solchen sondern, ähnlich wie sich dies schon bei den Wärme- und Kälteempfin- dungen ergab (S. 57), in den Verhältnissen der physiologischen Reizung begründet ist. Den chemischen Wirkungen bestimmter Stoffe kommt bekanntlich sehr allgemein die Eigenschaft zu, dass sie |durch die Wirkungen bestimmter anderer Stoffe neutralisirt werden können. Nun wissen wir nicht, welches die chemischen Veränderungen sind, die durch die Geschmacksreize in den Schmeckzellen hervorgebracht werden. Aber aus der Compen- sation der Empfindungen süß und salzig können wir nach dem Princip des Parallelismus der Empfindungs- und Reizunterschiede (S. 54) schließen, dass sich auch die chemischen Reactionen, welche die süßen und die salzigen Geschmacksstoffe in den Sinnes- zellen hervorrufen, aufheben. Das nämliche würde für andere Empfindungen gelten, für die etwa ein ähnliches Verhalten nach- weisbar sein sollte. Rücksichtlich der physiologischen Beding- ungen der Geschmacksreizung lässt sich aus diesen Verhältnissen nur das eine schließen, dass die solchen sich neutralisirenden Empfindungen entsprechenden chemischen Reizungsvorgänge wahr- scheinlich in den gleichen Sinneszellen stattfinden. Natürlich ist aber die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass in den nämlichen Gebilden mehrere durch entgegengesetzte Reactionen neutralisir- bare Vorgänge entstehen können. Die anatomischen Befunde und die physiologischen Versuche mit distincter Reizung einzelner Geschmackspapillen geben hierüber keine sichere Entscheidung. Ob es sich bei den erwähnten Compensationserscheinungen um einen eigentlichen, den der Farben entsprechenden Complemen- tarismus (siehe unten 22) handelt, ist übrigens auch hier noch zweifelhaft.
I. Die psychischen Elemente.
13a. In diesen Eigenschaften der Geschmacksqualitäten scheint das Grundschema für das Verhalten eines chemischen Sinnes gegeben zu sein. In dieser Beziehung bildet der Geschmacks- sinn vielleicht eine Vorstufe zu dem Gesichtssinn. Der offenbare Zusammenhang mit der chemischen Natur des Reizungsvorganges macht es nämlich schon hier wahrscheinlich, dass die wechsel- seitige Neutralisation gewisser Empfindungen, mit der vielleicht die mehrdimensionale Beschaffenheit des Empfindungssystems zu- sammenhängt, nicht in den Empfindungen als solchen sondern, ähnlich wie sich dies schon bei den Wärme- und Kälteempfin- dungen ergab (S. 57), in den Verhältnissen der physiologischen Reizung begründet ist. Den chemischen Wirkungen bestimmter Stoffe kommt bekanntlich sehr allgemein die Eigenschaft zu, dass sie |durch die Wirkungen bestimmter anderer Stoffe neutralisirt werden können. Nun wissen wir nicht, welches die chemischen Veränderungen sind, die durch die Geschmacksreize in den Schmeckzellen hervorgebracht werden. Aber aus der Compen- sation der Empfindungen süß und salzig können wir nach dem Princip des Parallelismus der Empfindungs- und Reizunterschiede (S. 54) schließen, dass sich auch die chemischen Reactionen, welche die süßen und die salzigen Geschmacksstoffe in den Sinnes- zellen hervorrufen, aufheben. Das nämliche würde für andere Empfindungen gelten, für die etwa ein ähnliches Verhalten nach- weisbar sein sollte. Rücksichtlich der physiologischen Beding- ungen der Geschmacksreizung lässt sich aus diesen Verhältnissen nur das eine schließen, dass die solchen sich neutralisirenden Empfindungen entsprechenden chemischen Reizungsvorgänge wahr- scheinlich in den gleichen Sinneszellen stattfinden. Natürlich ist aber die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass in den nämlichen Gebilden mehrere durch entgegengesetzte Reactionen neutralisir- bare Vorgänge entstehen können. Die anatomischen Befunde und die physiologischen Versuche mit distincter Reizung einzelner Geschmackspapillen geben hierüber keine sichere Entscheidung. Ob es sich bei den erwähnten Compensationserscheinungen um einen eigentlichen, den der Farben entsprechenden Complemen- tarismus (siehe unten 22) handelt, ist übrigens auch hier noch zweifelhaft.
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I. Die psychischen Elemente.
13a. In diesen Eigenschaften der Geschmacksqualitäten scheint
das Grundschema für das Verhalten eines chemischen Sinnes
gegeben zu sein. In dieser Beziehung bildet der Geschmacks-
sinn vielleicht eine Vorstufe zu dem Gesichtssinn. Der offenbare
Zusammenhang mit der chemischen Natur des Reizungsvorganges
macht es nämlich schon hier wahrscheinlich, dass die wechsel-
seitige Neutralisation gewisser Empfindungen, mit der vielleicht
die mehrdimensionale Beschaffenheit des Empfindungssystems zu-
sammenhängt, nicht in den Empfindungen als solchen sondern,
ähnlich wie sich dies schon bei den Wärme- und Kälteempfin-
dungen ergab (S. 57), in den Verhältnissen der physiologischen
Reizung begründet ist. Den chemischen Wirkungen bestimmter
Stoffe kommt bekanntlich sehr allgemein die Eigenschaft zu, dass
sie |durch die Wirkungen bestimmter anderer Stoffe neutralisirt
werden können. Nun wissen wir nicht, welches die chemischen
Veränderungen sind, die durch die Geschmacksreize in den
Schmeckzellen hervorgebracht werden. Aber aus der Compen-
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welche die süßen und die salzigen Geschmacksstoffe in den Sinnes-
zellen hervorrufen, aufheben. Das nämliche würde für andere
Empfindungen gelten, für die etwa ein ähnliches Verhalten nach-
weisbar sein sollte. Rücksichtlich der physiologischen Beding-
ungen der Geschmacksreizung lässt sich aus diesen Verhältnissen
nur das eine schließen, dass die solchen sich neutralisirenden
Empfindungen entsprechenden chemischen Reizungsvorgänge wahr-
scheinlich in den gleichen Sinneszellen stattfinden. Natürlich ist
aber die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass in den nämlichen
Gebilden mehrere durch entgegengesetzte Reactionen neutralisir-
bare Vorgänge entstehen können. Die anatomischen Befunde und
die physiologischen Versuche mit distincter Reizung einzelner
Geschmackspapillen geben hierüber keine sichere Entscheidung.
Ob es sich bei den erwähnten Compensationserscheinungen um
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tarismus (siehe unten 22) handelt, ist übrigens auch hier noch
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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/80>, abgerufen am 09.11.2024.
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